Abschied von Jade

Der Futterteller aus dem Kühlschrank
steht unberührt
wollte ihn dir heute Abend geben
gestern musste ich ihn wegstellen
zehn Stunden vor der OP
nüchtern solltest du sein
schweigend sahst du mich an
saßt mit mir noch auf dem Sofa
hieltst eine Pfote über die kahle Stelle
wie um sie zu bedecken schützen
wo die Kanüle und der rote Verband saßen
nach der Blutabnahme
du hast mich nicht ran gelassen
nahmst selbst den Verband ab
am nächsten Tag lag er vor dem Sofa
und die Mullbinde mit den getrockneten
Blutflecken
ein Glas mit vier gezogenen Eckzähnen und deinem
Namen und etwas von deinem wundervollen Fell ließ
ich mir noch mitgeben und die blutigen Kratzer am
Handgelenk von heute Morgen erinnern an dich
meine geliebte grauweiß getigerte Madam
du wehrtest dich flehtest wolltest nicht in die blaue Box
rührtest das Beruhigungspulver im Leckerli
Leberwurstcreme nicht an auf das Lina immer
begierig war

Mein Magen knurrt laut wie ein wildes Tier
voll unbändigem Hunger auf Leben Licht Toben
Spielen wie Du stärker nur die Leere jetzt ringsum
steht alles noch da wie von
dir und Lina der schwarz-weißen zuletzt gesehen
Kratzbäume Spielmäuse Kugelbahn die Kartons
und die neue Federangel die Schnur noch
zusammengerollt
alles wehrt sich in mir es zu sehen ohne dich
das Undenkbare Unerklärliche ist geschehen
lautes Miauen von dir vorher den ganzen Weg
zur Tierarztpraxis
noch mal Streicheln durch die Ritzen der Box
deine schönen Jadeaugen sehen
deine Nase stupste nach mir
allerliebst

der Tierarzthelfer hielt dich hoch
in der blauen Box zum Abschied
Nachmittag würden wir uns wieder sehen
du saßt aufrecht drin sahst mich still an
wie beim ersten Mal hinter den Stäben
im Katzenhaus
aufmerksam scheu und aufgeweckt klarer Blick
im den ich mich sofort verliebte und dein Tigerkleid
noch nicht vertraut
zuletzt uns noch näher im Schmerz
um das zweite Fellwesen Lina holte euch zusammen
aus dem Katzenhaus wir wuchsen zusammen zu
einer Berg und Talfahrt liebevoll verschworenen
Gemeinschaft die abrupt zerbrach
Lina wurde immer weniger ihr Blut auch das
Medikament sprang nicht an war bis zuletzt bei ihr
Du suchtest sie lange

Wir zwei hatten uns immer noch
bis heute
Sie wollten dir die Zahnschmerzen nehmen
und nahmen mir dich
zogen dir neun Zähne von insgesamt dreißig bei
Katzen
auch alle vier Schneidezähne
Ach wären sie doch nur drin geblieben
hätte ich auf mein Bauchgefühl und dich gehört
in der Natur gibt es auch keine Zahnärzte
zwölf Jahre können wilde Katzen leben sagte die
Tierärztin
Du warst gerade fünf
Was ist schon wirklich schmerzfrei im Leben

Alles gut gegangen OP und Narkose überstanden
hobst den Kopf maunztest bewegtest dich schon
dann plötzlich Herzstillstand unerklärlich
die Tierärztin strich mit mir über dein lebloses
wunderschönes grauweiß getigertes Fell sah eine
Naht dort deine Augen halboffen noch
suchten sie nach mir
ich durfte nicht zu dir
den Anblick so wackelig und benommen wollen Sie
nicht sehen sagten sie hinterher
Doch sagte ich warum nicht

Sie gaben dir Schmerzmittel
mein Schmerz um dich ist unendlich
ein Teil von mir geht mit dir
kein Mensch kann dich ersetzen
und du keinen Menschen
mein Herz will nicht weiter
und nicht still stehen
der Bus vor dem Fenster der dich und Lina
in der Box in ein neues Leben bringen sollte
fährt weiter hin und her

LV
30.5.2024


Katzenliebe

Wenn sie einen einmal in ihre Krallen, pardon ihr Herz
geschlossen haben, ist es für immer.
Wie Rohdiamanten funkeln ihre Augen
hell wild ungeschliffen
voll Verlangen uns einzufangen
ganz und gar
ihren Blicken bleibt nichts verborgen
ein Ton zu laut ein Schritt zu schnell
oder eine Streicheleinheit zu viel
springen sie auf fahren die Krallen aus
schwärmen aus schleichen sich heran
Herzspiel fängt von vorne an.

LV
29.5.2024

Alles Lebendige
(Für Jade)

Ich liebe manche Menschen
doch noch mehr
alles was Fell und Federn hat
das Meer und die Möwen
die Tauben und Wildgänge am Fluss
die kleinen Sänger in den Zweigen
die Gefiederten und Fellwesen
lehren mich Liebe ist alles
die Welt mit anderem Blick sehen

allen Wettern ausgesetzt
fragil ausdauernd unverdrossen
es kommen gehen fließen lassen
die Kunst sich wortlos verstehen
offen ins Herz sehen
mit einem Flügelschlag
einer galanten Fellbewegung
alles Schwere hinweg fegen

ohne Euch fällt mir das viel schwerer
pure Freude am Leben
über die Leere hinaus gehen

LV
1.6.2024

Blütenbett
(Für Jade)

Vom Blumenkasten am Fenster
den du fülltest mit Wonne im
Wintergarten vor dir das Grünmeer
bist du umgezogen
in ein Blütenbett mit vielen Rhododendron
und rotgelben Sternblumen
endlich verweht der Geruch nach Medizin
aus deinem wundervollen Fell
in der Luft der Duft nach frischer Erde
und Blätterflügel liegen bei dir

Sie haben dir gründlich auf den Zahn gefühlt
neun Zähne auf einmal gezogen
dich mit Schmerzmitteln betäubt
doch dein Herz deine Angst
außer acht gelassen
die Kratzer am Handgelenk sind verheilt
der Schmerz bleibt auf der blauen Box
steht noch dein Name
vertraute ihnen mehr
als dir mein Herz

Du lagst gern in offenen Kartons
einer voll gelber raschelnder Blätter
klein und strecktest den Kopf und
die weißen Pfoten genüsslich heraus
deine Jadeaugen leuchteten
als sei dies der bequemste Platz der Welt

sprangst auf den Kratzbaum
deinen Aussichtsposten am Fenster
voll Schwung bliebst sitzen wie sehr
er auch schwankte wie ein Schiff auf hoher See
davongetragen um hinaus zu gelangen
hangeltest elegant am geliebten Klettermast
aaltest dich auf dem hölzernen Balkontisch
dem Sonnendeck rücklings
klettertest auf den äußersten Geländerrand
Blumen zu beschnuppern

nichts konnte dich aufhalten
deine unbändige Energie Neugier ansteckende
Fröhlichkeit treib wilde Blüten
überraschtest mich immer wieder mit lustig
umgewandelten Dingen und Stellungen
wie wenig es braucht zum Genießen
meine wildsanfte scheue und verschmuste
grauweiß getigerte Madam
meine Muse Antreiberin und Anführerin
abwechselnd Wolke und Wirbelwind
zusammen mit Lina der kleinen schwarz-weißen
mein ein und alles wie vorher Lola die schwarzfellig
Gelbäugige

Nun klettert ihr gemeinsam auf der Himmelsleiter
letzte Nacht leuchteten hoch über dem Balkonfenster
zwei Sterne besonders hell
vielleicht saßt ihr gerade auf der Deichsel vom
Großen Wagen
wacht von dort weiter über mich
und segelt am Himmel mit den Schwalben

LV
7.6.2024

Der letzte Holunder

Die weißen Blüten flüstern mir
vom Lebensspiel
während sie durch meine Hände
streifen gerade hingen sie noch in der Sonne
einige ganz oben im Strauch
nahezu unerreichbar
neigten sich mir zu
andere blieben
vergehen im Licht
die Beeren wachsen schon
als die ersten Blüten rieselten
sahst du mir noch zu
so viel Aroma und Aufmerksamkeit
für solche Winzlinge
da gab es einen Radau von Jade der grauweiss getigerten
den Holunderbaum im Hausgarten sahst du nie

LV
9.6.2024

Lichtspur
(Für Jade)

Die Morgenlieder der Vögel
wecken den Tag
emsiges Geschwirr
zartrote Federwolken segeln
vorbei
träum mich zurück
zu dem Morgen als wir uns verloren
höre dein Rufen
öffne
du springst aus der blauen Box
zurück ins Leben
der Bus fährt ohne uns
vorüber wie jetzt auch

Deine Lebensfreude und unbändiger Eigenwille
überstrahlten heilten die entzündeten Zähne
mit der Zeit
gab dich leichtfertig aus der Hand
sie versprachen Schmerzfreiheit
du reagiertest mit Herzstillstand

Legst überall deine Lichtspur auf die Plätze
die uns verbinden
lässt die Sonne noch mehr strahlen wo du nun bist
und brachtest mir eine große schwarze Feder
vom Nachtvogel
liegst meine grauweiß getigerte Muse wachend und
träumend weiter bei mir

LV
13.6.2024

PS: Im Gedenken an meine geliebte, gesunde und lebensfrohe Jadekatze, die am 30. Mai 2024 nach einer ZahnOP unverhofft an plötzlichem Herzstillstand starb. Sie war knapp fünf Jahre alt und ich bin zutiefst erschüttert über diesen Verlust.

Alle Texte + Fotos: Lilli Vostry

Unvergesslich: Jade & Lina kurz nach der Ankunft aus dem Katzenhaus bei uns zuhause vor drei Jahren.