Nichts Menschliches ist mir fremd?! War einmal. Erst der Kampf gegen das Virus. Erprobung von Covid-Impfstoffen mit modernen medizinischen Verfahren wie Genom Editing und Crispr (einer Art Gen-Schere, mit der sich Gene zielgerichtet herausschneiden und verändern lassen). Und bald komplett designte Menschen?! Dem geht die Gruselkomödie mit realen Bezügen „Die Laborantin“ mit Karina Plachetka in der Titelrolle nach. Foto: Sebastian Hoppe

Im Selbstoptimierungsrausch

Das Streben nach Perfektion, Freiheit von jeglichem Kranksein und Schmerzen durch totale Gesundheits-Überwachung wird düster grotesk auf die Spitze getrieben und wirft viele Fragen auf zu Möglichkeiten und Grenzen moderner Medizinforschung im Stück „Die Laborantin“ von Ella Road im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden,

Sag mir deine Blutwerte und ich sage dir voraus, woran du erkranken wirst und wer du bist! Davon hängt alles, Wohl oder Weh ab im Stück “Die Laborantin“ von Ella Road (Übersetzung aus dem Englischen von John Birke). Die deutschsprachige Erstaufführung der auf einem dokumentarischen Text basierenden fiktiven Geschichte  mit realen Bezügen war kürzlich im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden.

Ein Mann und eine Frau begegnen sich auf einem Krankenhausflur und kommen sich näher. Eigentlich eine banale Story, die überall passieren kann. Ihre Brisanz erhält sie durch die besondere Situation und das Umfeld der Figuren. Schon das zufällige Kennenlernen der beiden ist nicht mehr möglich in der Welt, in der sie leben. Das Private wird politisch in dieser Liebesgeschichte.

Persönliche Lebensvorstellungen und Werte sind restriktiven Regeln der Selbstoptimierung durch die Gesellschaft unterworfen, die hart und konträr aufeinander prallen in dieser Inszenierung unter Regie von Adrian Figueroa.
Auf die Bühne kam das Szenario einer Dystopie mit abwechselnd grotesk-komischen, düsteren und beklemmenden Videobildern und Szenen (Videoprojektion: Victor Morales) mit endlos scheinenden Krankenhausfluren, blutrot aufleuchtenden Lämpchen, unheilvoll kreisenden schwarzen Vögeln am Himmel und Avataren, künstlich-menschlichen Mischwesen mit bizarren Maskengesichtern auf der Leinwand.

Spannend, unheimlich und eindringlich in Szene gesetzt, werden die Versprechen, Versuche und Folgen der modernen Medizin für das künftige menschliche Zusammenleben näher beleuchtet. Damit geht die in England lebende Autorin Ella Road mit ihrem Szenario noch hinaus über den Roman „Corpus Delicti“ von Juli Zeh, der das Bild einer Diktatur entwirft, in der Gesundheit erste Bürgerpflicht ist.

Eingangs erscheint auf der Leinwand das Bild einer Politikerin, die sich vehement für die Genomforschung ausspricht. Ihr Kopf wird immer größer bis er wegkippt wie eine künstliche Attrappe, begleitet von grell lauten, elektronischen, brodelnden und glucksenden Klängen (Musik: Miguel Toro). Eine ebenso verlockende wie gruslige Vorstellung zugleich sind die medizinischen Versuche, in die menschlichen Gene einzugreifen, aus unserem Blut „lesen“ und Vorhersagen für die Zukunft treffen zu können. Keine Krankheiten mehr, makellose Körper und bald auch komplett designte Menschen?!

Mittendrin in diesem Dilemma des absurd auf die Spitze getriebenen Selbstoptimierungswahns stehen Bea, die Laborantin (ehrgeizig-idealistisch: Karina Plachetka) und ihr vermeintlicher Traummann Aaron, der ein Doppelleben führt im Zwiespalt mit den äußeren Zwängen und daran zerbricht (beeindruckend: Simon Werdelis). Sie müssen sich behaupten in einer Welt, in der die Blutwerte über alles entscheiden, welchen Job, Partner, sozialen Status man bekommt. Es gibt nur noch zwei Arten von Menschen: “High-Rater“ mit hohem Rating und „Low-Rater“ mit niedrigen Werten. Die erbarmungslose Auslese treibt das Paar zu einem Versteckspiel, bei dem Gefühle wie Schmerz, Schwäche und Trauer um Verluste ausgeblendet werden. Sie werden immer missmutiger und misstrauischer, erschöpfter und ihre Bewegungen immer mechanischer, starrer.

Bis der schönen Schein ihres sorgfältig konstruierten Lebens als Scherbenhaufen vor ihnen liegt. Bea verdient mit gefälschten Bluttests viel Geld, ihre Freundin Char (Laina Schwarz) ist „Low-Rater“ durch eine unheilbare Erbkrankheit und wird zur glühenden Aktivistin gegen Ratismus und Ausgrenzung. Bedrückend die Szene, in der Bea im Schattenspiel hinter einer roten Wand ein schwarzes Brautkleid anzieht, als sie nach vorn tritt ist es weiß. Am Ende verliert sie alles, ist der andere plötzlich nichts mehr wert, weil er nicht die optimalen Blutwerte hat.

Als bodenständig lebenserfahrener Hausmeister der Klinik, der lustige Anekdoten von Familienfeiern und spielenden Kindern im Garten erzählt, wirkt Holger Böhme wie aus einer anderen Zeit und parodiert erfrischend den Perfektionswahn in einer Zigarettenpause mit Bea. Doch dann wurde alles anders. Sein gärtnernder Bekannter weinte wegen etwas krummer Gurken und erstickte schließlich an einer großen, glatten Tomate. Ein packender Theaterabend, der viele ethische Fragen aufwirft über lebenswertes Leben, Gesund- und Krankheit und Verletzlichkeit, die zum Menschsein dazu  gehören. Viel Beifall vom Publikum.

Text (lv)

Nächste Termine: 16.11., 19.30 Uhr und 21.11., 19 Uhr im Kleinen Haus, Glacisstraße 28.


Wenn die „richtigen“ Blutwerte entscheiden: Ist man von einem Moment zum anderen Gewinner oder Verlierer von Job, Karriere, Partnerschaft, sozialem Status in der Gesellschaft. Char (Laina Schwarz) macht diese Erfahrung und die „Laborantin“ mit selbst durchschnittlichen Blutwerten (Karina Plachetka) profitiert von diesem ungeheuren „Selbstoptimierungs“-System durch gefälschte Bluttests. Foto: Sebastian Hoppe