Kolumne: Beerenzeit
Sie ist eigentlich vorbei. Doch für mich ist immer noch Beerenzeit. Es gab selten so viele wie diesen Sommer. Ihnen verdanke ich viele schöne Momente. Beerenglück.
Es brennt und kribbelt auf der Haut. Die Arme sind voller Kratzer, roter Striemen. Von der Natur gezeichnet, gepiekst und umarmt mein Körper. Die Brombeeren haben ganze Arbeit geleistet. Schreiben hinterlässt nicht solche Spuren. Jedenfalls nicht unmittelbar. Die Beeren lachten mich schon von weitem an, aus den Büschen entlang des Elbradweges in Pieschen. Viele schon groß und schwarz, andere noch rot, brauchte ich sie nur einsammeln. Andere versteckten sich unter den Blättern. Man sieht sie nicht von vorn, sie wollen gefunden werden. Es braucht einen Perspektivwechsel. Von allen Seiten. Das ist mühsam, braucht Zeit und Geduld. Stachlig sind die wilden Brombeeren auch, anders als die gezüchteten im Garten. Doch das wäre mir nur das halbe Vergnügen. Wie verlockender ist es doch, sich ihnen zu nähern über alle Widrigkeiten hinweg, sie zu entdecken, zu erhaschen und zu bergen. Und dann mit den Beeren den köstlichen, fruchtigen Duft des Sommers zu bewahren. Ich habe inzwischen einen schönen Vorrat an Brombeer- und auch Holundermarmelade, die an kalten Tagen noch mehr schmeckt. Wie viel man beim Brombeerpflücken nebenbei über sich selbst und andere lernt. Mehr als aus all den Besser-Leben-Ratgebern und Selbstoptimierungskursen. Auch deshalb bin ich so gern in der Natur. Sie gibt und schenkt ihre Schönheit, wenn man sie sieht.
Schön, aber oft auch seltsam sind die Reaktionen der Umwelt, wenn andere einen beim Brombeerpflücken sehen. Von erstaunten, bewundernden bis mitleidigen Blicken. Von wegen, die arme Frau kann sich nichts zu essen kaufen!, ist alles dabei. Wenn man halb versteckt nach den Beeren Ausschau haltend aus dem Busch hervorschaut und Vorbeikommende einen mustern als führe man etwas Böses im Schilde… Und man selbst halb mulmig, halb belustigt es wahrnimmt. Manchmal muss man sich auch verstecken vor der Welt, um nicht zu verzweifeln an dem, was da täglich oft Grausiges passiert. Die schönsten Beeren hängen weit oben. So sehr ich mich recke und strecke, dank Yoga kein Problem, einige bleiben unerreichbar. Das stachelt meinen Ehrgeiz an. Ich gehe immer tiefer in die Hecke, mein Haar verfängt sich in den Zweigen und die Stacheln zerreißen mein blaues Lieblings-Shirt. Alles im Leben hat Folgen, denke ich. Aber ist es das immer wert? Wo ist die Grenze? Mein T-Shirt hat nun eine Naht, die sich wie eine Narbe auf dem Bauch anfühlt. Die oberen Beeren sind vertrocknet. Auch sonst sind viele hinüber, weil nur wenige sich die Mühe machen sie zu pflücken. So war es vergangenes Jahr und dieses Jahr wieder.
Da braucht man schon eine Leiter, lacht ein Mann der ebenfalls Brombeeren pflückt. Obwohl er hochgewachsen ist, pflückte er nur in Gesichtsnähe. Geht aber auch paarweise! Ein junger Mann hebt seine Freundin im geblümten Kleid auf seine Schultern, so kommt sie gut an die oberen Brombeeren heran. Ich reiche ihnen gern eine neue Schale. Ein vorbeigehender Mann fragt, ob es fürs Abendbrot reicht. Für mehrere, antworte ich. Ein anderer joggt entlang der Brombeerhecke auf und ab, während ich pflücke und in der Sonne schwitze. Als sie fast schon untergeht, stehe ich immer noch da, glückselig im Gestrüpp reich beschenkt von der Natur. Ein junger Mann bleibt stehen. Ob man die Beeren unbedenklich pflücken könne, wegen dem Fuchsbandwurm?! Ich hab noch keinen gesehen, sage ich amüsiert. Wovor nicht alles gewarnt wird, dann kann man bald nicht mehr aus dem Haus gehen. Es geht mir auch nicht nur um die Brombeeren, sage ich. Sich Zeit zu nehmen, sie nicht zu übersehen, sondern zu verweilen und dankbar anzunehmen die Gaben der Natur, das ist für mich wie Meditation. Beeren pflücken ist Luxus und Genießen. Der junge Mann vertieft sich ebenfalls in die Brombeerhecke, kostet ein paar Beeren und sagt nach einer Weile, er fühle sich schon ganz entspannt und: „Wir Großstadtkinder sind das eben nicht mehr gewöhnt mit der Natur…“ Ein älterer Mann kommt an der Brombeerhecke vorbei als ich mich gerade wieder in die Höhe strecke. „Fliegen müsste man können“, sagt er lächelnd. Geht schon, erwidere ich.
Inzwischen ist Herbst. Die sonnigen Tage werden seltener. An grau trüben Tagen erfreue ich mich an meinen leuchtend bunten, betörend duftenden Wildblumensträußen, der noch mal auflodernden Farbenfülle in der Natur, dem würzigen Laubgeruch und der klaren frischen Luft. „Lebe deine Fülle!“, zwinkert mir Ganesha (der Elefantengott) auf einem Bild über meinem Schreibtisch zu. Die Brombeerhecke am Elbweg trägt noch immer viele rote und vereinzelt schwarze Beeren und rosa Blüten, zu denen sich Hagebutten gesellen. Ich habe noch eine Schale voll gesammelt. Wohl die letzte in diesem Jahr. Werde sie Beere um Beere genießen. Doch es gibt ja noch mehr Früchte.
Wer Frisches aus der Natur ebenso mag und die Früchte nicht dem Verfall überlassen möchte, findet eine Karte mit verzeichneten Orten, in denen man Obstbäume gratis ernten darf im Netz unter www.mundraub.org.
Macht was draus.
Bis zum nächsten Mal!
Eure Lara Finesse
BrombeerZauber im Herbst
Es gibt immer noch Brombeeren… Gepflückt am Elbufer in Pieschen am 15. Oktober 2017.
Text + Fotos (lv)