Nach der Erzählung “Katrin“ von Angelika Mechtel

– Kurzgeschichte aus der Sicht eines objektiven Erzählers (Nachbarin) von Lilli Vostry

In letzter Zeit sah ich sie seltener. Wir wohnen im selben Haus, kennen uns vom Sehen. Mal ein kurzer Schwatz im Treppenhaus, Paketsendungen entgegennehmen gegenseitig und die Blumen gießen, wenn die Bewohner im Urlaub waren. Ihren Vornamen Katrin weiß ich nur, da ihr Mann sie manchmal laut rief. Einige Male stritten sie heftig, Türen knallten, die Kinder weinten. In letzter Zeit war es merkwürdig ruhig bei ihnen. Eines Tages, ich kam gerade vom Einkaufen, stand ein Notarztwagen mit Blaulicht vor unserem Haus. Ich bin erschrocken und dachte seltsamerweise gleich an sie. Befürchtete das Schlimmste und machte mir Vorwürfe, dass ich sie nicht von mir aus einmal angesprochen hatte und fragte, ob sie Hilfe brauche. Doch nun war es wohl zu spät.

Als ich an dem Krankenwagen vorbeiging, stand die Tür offen und ich sah eine Trage, auf der Katrin lag. Ihr Mann war bei ihr mit besorgter Miene und ein Arzt. Etwas war mit ihrem Arm. Und sie hatte die Augen geschlossen. Still und bedrückt ging ich weiter, ins Haus. Die Sache ließ mir keine Ruhe. Was war geschehen?! Hatte sie sich verletzt, war sie gestürzt oder hatte er ihr Gewalt angetan?! Er war von großer, kräftiger Gestalt, energiegeladen, grüßte stets freundlich und hielt Frauen höflich die Tür auf. Half auch mal bei kleineren Reparaturen im Haus. Sie war klein, zierlich, ruhig sanfte Ausstrahlung. Ich hörte ihren Mann oft hastig die Treppe hinunter eilen, wie getrieben aus dem Haus gehen. Versuchte mich an Details zu erinnern, die Hinweise auf das nun offensichtliche Unglück geben könnten.

Nach außen waren sie eine ganz normale Familie. Ein Ehepaar in mittlerem Alter mit Kindern. Sie war zu Hause, kümmerte sich um den Haushalt und versorgte die Kinder, wenn sie aus dem Kindergarten und der Schule kamen und kochte das Essen. Er ging morgens zur Arbeit und kam abends wieder. Ich hörte, wenn ihr Baby schrie und wenn der Mann sich darüber aufregte. Wenn sie es nicht gleich beruhigen konnte. Er hatte oft Wutanfälle, die er an seiner Frau ausließ. Noch mehr, als er arbeitslos wurde. Manchmal, wenn er nicht zu Hause war, hörte ich sie weinen. Sie tat mir leid und ich überlegte jedes Mal bei ihr zu klingeln. Ließ es aber dann doch, aus Scheu und Unsicherheit, in ihre Privatsphäre einzudringen und zu erkennen zu geben, dass jemand merkte, dass sie weinte und litt. Vielleicht wollte sie auch alleine sein damit, vielleicht halfen ihr die Tränen auch in dem Moment. Weinen hat auch etwas Tröstliches, von Schmerz Befreiendes.

Dass sie Tabletten schluckte gegen Kopfschmerzen, Tabletten gegen Schlaflosigkeit, Rückenschmerzen behandeln ließ und Blutarmut, erfuhr ich erst später. Auch wie das Blatt ihrer Ehe sich wendete. Sie ging in die Verweigerung, sprach kein Wort mehr mit ihm. Wurde wütend, wenn er wütend war. Irgendwann kapitulierte sie, hat sich die Pulsadern aufgeschnitten, aber sie wollte nicht sterben! Sie konnte selbst nicht begreifen, was sie tat, sagte sie hinterher. Sie hat es zugelassen, dass ihr Mann ihr den Arm abband, dass er für den Hausarzt einen Unfall erfand. Was sollte sie ihm auch sagen?!

Dass sie eigentlich vor ihrer Ehe und ihrem Mann fliehen wollte, sie weder gehen noch bleiben konnte. Er nichts kapierte. Alles zur Wehr setzen nichts half. Sie derart verletzt war innerlich von ihm, dass sie sich selbst verletzte. Es war ein Hilfeschrei! Er war entsetzt, es tat ihm leid. Das hatte er nicht kommen sehen. Sie hatte ihm ja nie gesagt, was mit ihr los war und wie es in ihr aussah. Sie konnten beide nicht über ihre Gefühle sprechen. Die Wut war sein Ventil, sie tat es ihm gleich. Doch die Wut verrauchte. Dann blieben nur noch das Schweigen, die Sprachlosigkeit, der Suizidversuch. Aus Verzweiflung. Sie wusste nicht mehr weiter. In ihrer größten Not stand ihr Mann ihr bei. Und machte das Unglück etwas kleiner. Indem er einen Unfall erfand. Sie haben es überstanden.

Katrin hatte gehofft, dass einer fragen würde. Was geschehen war. Sie hat sich selbst gefragt. Ich habe ihr zugehört. Sie saß im Park auf einer Bank, schaute versunken vor sich hin, und ich habe mich zu ihr gesetzt. Schließlich wohnen wir im selben Haus.

*

Szene: Versuchter Suizid von Katrin und Besuch des Ehemanns im Krankenhaus
(von Lilli Vostry)

Zur Kurzgeschichte „Katrin“ von Angelika Mechtel

Ehemann (stellt einen Blumenstrauß auf den Tisch, setzt sich ans Krankenbett und sagt leise): Hallo, Katrin! Wie geht es dir? Hast Du mir einen Schrecken eingejagt… Warum nur?!
Katrin (liegt im Bett im Krankenhauszimmer und sieht ihn eine Weile schweigend und fragend an.): Warum bist du hier?!
Ehemann: (verwundert): Weißt du denn nicht mehr, was passiert ist?
Katrin: Nein.
Ehemann (nach Fassung ringend): Das kann nicht sein! Du warst sicher nicht bei Sinnen. Du wolltest nicht, was du getan hast… Doch du hast es getan.
Katrin: Was habe ich denn getan?
Ehemann (ruhig): Du hast dir die Pulsadern aufgeschnitten… dir versucht, das
Leben zu nehmen. Ich hab dich in letzter Minute im Bad liegend fast ohnmächtig gefunden! Alles war voller Blut! Ich konnte gerade noch den Notarzt alarmieren.
Katrin (sieht ihn stumm an und sagt leise): Das habe ich getan. Ich wusste nicht mehr weiter. Ging wohl alles schief…
Ehemann (irritiert): Das verstehe ich nicht. Warum hast Du nichts gesagt, vorher?! Was ging denn schief…
Katrin (lacht bitter): Na alles. Du kapierst es einfach nicht! Egal was geschieht. Wie kann man nur so blind sein?!
Ehemann: Ach ja, dann sag mir bitte jetzt, was los ist.
Katrin: Warum hast du mich nicht einfach da liegen lassen?!
Ehemann: Das ist nicht dein Ernst?! Sollte ich etwa zusehen, wie du verblutest?!
Katrin: Warum nicht?! Es war dir doch vorher auch egal, wie es mir geht.
Ehemann: Glaubst du das wirklich?!
Katrin (sieht ihn schweigend einige Minuten an): Es geht mir nicht gut. Schon lange nicht. Ich wollte das alles nicht.
Ehemann (greift nach ihrer Hand und streichelt darüber): Das tut mir leid! Ich wollte immer, dass es Dir und den Kindern und uns gut geht. Wie konnte es nur so weit kommen?!
Katrin (zieht ihre Hand zurück): Hast du dich überhaupt mal gefragt, wie es mir geht in der ganzen Zeit?! Warum ich zuletzt kein Wort mehr mit dir gesprochen habe?
Ehemann (sieht sie unsicher an): Ich nahm an, es geht dir gut. Nicht alle Tage sind gleich, das ist normal. Du hast dich selten beschwert. Hast dich um die Kinder, den Haushalt, die Wohnung, um alles sorgfältig gekümmert. Mich gefragt, wie es mit der Arbeit läuft und wie es mir sonst geht. Ich wusste nicht, dass du dich so allein gefühlt hast. Vielleicht brauchst du einfach mehr Zeit für Dich und Ruhe, habe ich zuletzt gedacht.
Katrin: Ja, genau! Ruhe von Dir, den Kindern, von allem, brauchte ich.
Da blieb mir nur noch, die Pulsadern aufschneiden…
Ehemann (ernst): War es wirklich so schlimm?!
Katrin: Ja, war es.
Ehemann: Hast du noch Schmerzen?
Katrin: Es geht so.
Ehemann: Du bist wirklich sehr stark! Ohne dich wäre ich nicht dort, wo ich heute stehe. Immer warst du für mich und die Kinder da. Ich hab mich wohl so daran gewöhnt, dass ich es mir gar nicht mehr anders vorstellen konnte. Dass ich tatsächlich dich übersehen habe, dass du auch Zeit für dich selbst brauchst.
Katrin: Oh ja, stark sein! So stark und robust, bis man gar nicht mehr merkt, wie schwach man eigentlich ist, innen leer, ausgebrannt… Ohne eigene Wünsche und Ziele. Unempfindsam und unehrlich sich selbst und anderen gegenüber.
Ehemann (kleinlaut): Wir haben uns gegenseitig belogen und etwas vorgemacht.
Katrin: Ja, das haben wir.
Ehemann: War unsere Liebe, unsere Ehe also auch eine Lüge, ein Fehler, ein Irrtum?!
Katrin (sieht ihn stumm und aufmerksam an): Die Liebe nicht, aber die Ehe und so schnell Kinder bekommen zu haben, war ein Fehler von meiner Seite im Nachhinein. Ich habe d e i n e Kinder geboren! Weil du welche haben wolltest. Mich hast du nie nach meinem Kinderwunsch gefragt!
Ehemann (traurig, überrascht): Das ist hart zu hören. Ich hab dich vom ersten Moment an so geliebt, dass ich mit dir unbedingt auch Kinder, eine Familie haben wollte. Ich fühle mich bei dir wohl und geborgen. Du hast ein weiches, warmes Herz. Kennst meine Träume und meine Sorgen. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, du wolltest keine Kinder!
Katrin: Ja, ich bin eine Frau und Frauen können Kinder bekommen. Doch es ging mir damals alles zu schnell mit dem Kinderkriegen. Ich habe mir gut zugeredet, ich wollte glücklich sein. Daher ließ ich mich darauf ein, auch auf unsere Ehe. Hab die Kinder bekommen, dich zur Arbeit geschickt und das Essen gekocht. Ich habe von deiner Mutter gelernt, wie du gewohnt warst zu leben und was du am liebsten isst. Ich habe mich darauf eingestellt. Meine eigene berufliche und persönliche Entwicklung blieb völlig auf der Strecke. Ich habe zu viel einfach hingenommen. Sogar deine Wut und deine Schläge!
Ehemann: Ich kenne es nicht anders aus meiner Familie. Dass die Frau für den Mann und die Kinder sorgt. Es war mir nicht klar, dass du in der Hinsicht manches anders siehst, Familie und arbeiten gehen wolltest, eigenes Geld verdienen. Es war mir auch nicht klar, dass du Angst vor mir hattest! Ich hatte doch selbst solche große Angst, dass ich es nicht schaffe alles, im Beruf und als Ehemann und Vater! Du hast mich geweckt, wenn ich nachts in Träumen schrie und gesagt, du seiest es. Es hat mich getröstet, auch wenn ich wusste, dass es nicht stimmt. Ich wusste nicht, wie ich mit dir über meine Ängste reden soll!
Über den Stress, den Konkurrenzdruck auf Arbeit, meine Versagensängste auch bei dir… Ich war oft wütend auf das alles und da ist mir manchmal die Hand ausgerutscht. Das schaukelte sich auch gegenseitig hoch, meine und deine Wut und Ratlosigkeit. Es tut mir verdammt noch mal leid im Nachhinein!
Katrin: Ja, ich wollte auch mein eigenes Leben, nicht nur für die Familie leben.
Ich habe die Fehler bei mir gesucht, versucht verständig und nachsichtig zu sein.
Ich habe dir Mut zugesprochen, dich getröstet und war glücklich, wenn du mich in deinen Armen begrubst, wenn du freundlich warst. Ich habe gelernt mit deinen Ängsten zu leben. Doch mit deinem Jähzorn konnte ich nicht umgehen.
Mich hat keiner getröstet, keiner Mut zugesprochen, wenn ich traurig, hilflos war, Depressionen bekam. Ich habe mir einen sanften Mann gewünscht, der auch mein großer Bruder sein könnte. Davon hab ich dir nie etwas gesagt. Ich habe in geschlossenen Räumen geweint. Habe mir gesagt, dass die täglichen Niederlagen nichts sind gegen meine Zuneigung.

Ehemann: Diese verdammte Angst… richtet alles zugrunde. Gibt es überhaupt etwas, wovor du oder ich keine Angst haben?! Was machen wir nun?
Katrin (setzt sich im Bett auf): Ich habe keine Angst mehr vor der Wahrheit, zu sagen, wie es ist für mich. Ich lasse nicht mehr zu, dass mich einer verletzt. Ich habe Schreibmaschine gelernt und Stenografie und eine Arbeit angenommen. Nicht nur des Geldes wegen. Ich habe Selbstvertrauen dadurch auch gewonnen.
Ehemann: Meine größte Angst war, als ich dich dort im Bad liegen sah und dachte, du würdest es nicht überleben. Das könnte ich mir mein Leben lang nicht verzeihen! Du hast zugelassen, dass ich dir den Arm abband und für den Hausarzt einen Unfall erfand. Wir haben uns beiden das Leben gerettet.
Katrin: Wir haben es überstanden. Ich kann kaum glauben, was du mir da sagst. Es fühlt sich an wie ein Traum. Aus dem ich jeden Moment erwache und dann geht alles wieder von vorn los! Du sitzt vor mir, siehst mich an und es kommt mir vor, als hätten wir uns noch nie gesehen. Und mein Leben beginnt ganz neu in diesem Moment.