Fantasius Firlefanz und die Kunst des Sehens
Der Mann im hellblauen Kittel hinter der Glastür sah die Frau mit großen Augen an, als er ihr die Tür zur Station öffnete. „Sie kommen freiwillig wieder hierher?“ „Ja, ich möchte einen Patienten besuchen“, sagte sie. Der Krankenhausgeruch stieg ihr unangenehm in die Nase. Den mochte sie nicht. Doch der Ort war ihr inzwischen vertraut und nahe geworden. „Klinik für Augenheilkunde“ stand an der Glastür. Die Frau ging zum Aufnahmeschalter und überreichte der diensthabenden Krankenschwester einen roten Weihnachtsstern. „Nachträglich zum Ersten Advent“, sagte sie. „Ich habe mich wohlgefühlt hier. Der Aufenthalt hat mir gutgetan.“
Es war für sie wie eine Ruheinsel. Die Augenklinik befand sich in einem farbenfroh gestalteten Neubau in der vierten Etage. Mit großen Panoramafenstern und fantastischer Aussicht auf die Stadt, ihre Türme, auf Weinberge und Elbhänge. Abgeschirmt vom Großstadtlärm. Kein Laut drang hier herauf. Nur die Kirchturmuhr von gegenüber schlug zur vollen Stunde und die Kirchenglocken aus der Altstadt klangen herüber und verhallten sanft. Ab und zu flogen Vögel vorbei am Fenster. Die letzten gelben Herbstblätter hingen oben in den Bäumen. Der Schnee war schon wieder geschmolzen. Weiße Reste lagen auf den Dächern, die in der Nachmittagssonne glänzten. Warmes Licht schien auf die Häuserfassaden ringsum.
Das Fenster stand weit offen. Davor stand die Frau. Sie trug einen roten Strickpullover und Jeans, weiß geblümt an den Hosenbeinen, und genoss die Aussicht und die Ruhe. Den weiten, weißblauen Himmel, der sich nach und nach golden färbte. Hinter den Bäumen mit den dunklen Nestern ragten die Altstadttürme in die Höhe. Die Kuppel eines Bauwerks strahlte rot violett aus dem Inneren. „Aus der Ferne kommt einem die Stadt vor wie eine andere Welt“, sagte die Frau zu dem Mann, der neben dem Fenster am Tisch saß. Er trug einen Bademantel über dem grauen Unterhemd, einen Bart und eine weiße Augenklappe über einem Auge. Sie kannten sich seit ihrem Klinikaufenthalt. Er war vor ihr operiert worden. Am Tag bevor sie entlassen wurde, sprach er sie im Besucherzimmer an. Ob sie jemanden habe, der sie zuhause jetzt versorge? „Ja, meine zwei Katzen warten auf mich“, sagte die Frau. Der Mann lächelte. „Vielleicht kann ich Sie mal besuchen?“, fragte er. „Vielleicht“, sagte die Frau. Auf einmal vernahm sie einen leisen Flügelschlag. Ein kleiner, schwarz gefiederter Vogel sah zum Fenster herein. „Bist Du es, Fantasius Firlefanz?“, war die Frau überrascht. Der kleine Ritter der Lüfte saß sonst neben ihr als Maskottchen am Schreibtisch, der seit Tagen leer war.
Er sah sie mit großen Augen an. „Wieso tragen hier so viele Leute Augenklappen? Sind das alles Piraten?!“, wunderte sich Fantasius. „Haben die alle schon die Schatzinsel bereist und solange auf Landkarten und durch Fernrohre gestarrt, bis ihnen die Augen wehtaten? Oder haben sie zu lange nach den funkelnden Schätzen gegraben und sich um die Kisten voller Rum und Goldstücke geprügelt, weil jeder das Meiste haben wollte?“ Fantasius hatte schon Piraten in einem Film gesehen. Dort trugen sie aber schwarze Augenklappen. Einer, der Kapitän wohl, trug auch noch einen Papagei auf seiner Schulter, der ebenfalls eine kleine Augenklappe trug wie sein Herr. Achherje, und wie es hinter den Augenklappen der Piraten aussah, möchte er lieber nicht wissen, sagte der Mann in dem Klinikzimmer. Die Frau hatte Pfefferkuchen und Orangen für ihn mitgebracht. Er holte aus einem Becher mit Obst Mango- und Khakistücke für sie. Diese Frucht kannte sie noch nicht. Eine Mischung aus Birne und Aprikose. Sie zündete ein Teelicht und eine Räucherkerze in einem Pffefferkuchenhaus aus Ton an. Es duftete nach Weihrauch. Nach einer Weile kam die Stationsschwester herein. Sie mussten das Teelicht auspusten. Es könnte Brandalarm auslösen und dann müsste die Frau den Feuerwehreinsatz bezahlen, warnte sie. Der Mann sah amüsiert zur Decke. Wie viel Kerzenrauch da wohl aufsteigen müsste.
“Es ist schön hier oben. Die Welt aus der Vogelperspektive zu sehen wie du“, sagte die Frau zu Fantasius. Sie hat ihre weiße Augenklappe mit dem Klebestreifen noch. „Augenkissen“ stand auf der Verpackung. Ein schönes Wort. Ein Kissen, in dem sich das Auge ausruhen darf. Vom vielen Sehen. Überall locken und flimmern Reklamen, Bildschirme, Handydisplays. Der dunkle Fleck an ihrem Auge ließ sich nicht wegreiben. Im Dunklen im Schlafzimmer sah sie Feuerräder und Lichtblitze, im Bad auf den Fliesen plötzlich funkelnde Eiskristalle und einmal ein schwarz-weiß geflecktes Band wie von einer Schlange vor ihrem Auge. Das war zu viel und erschreckte die Frau. Es war auch höchste Zeit, als sie zur augenärztlichen Notsprechstunde kam. Sie musste noch am selben Abend in die Klinik. Die Netzhaut am Auge hatte sich schon zur Hälfte gelöst. Unbehandelt wird man dann blind. „Was heißt blind?“, fragte Fantasius. „Dass man nichts mehr sieht. Die ganze Welt wird plötzlich schwarz“, sagte die Frau. „Mein Federkleid ist doch auch schwarz“, erwiderte Fantasius, der ein kleiner Amselmann ist. Gekleidet wie ein Spielmann mit federgeschmückter Perlenkappe auf dem Kopf, beweglichen Flügeln und großem Schnabel. “Ja, die schwarzen Federn sind ein Teil von Dir. Mit deinen Augen kannst du alles sehen“, sagte die Frau. Sie fragte sich, ob Vögel die Welt auch bunt sehen oder nur bestimmte Farben. Wie klar und weit die fliegenden Wesen sehen können?
“Und jetzt kannst du wieder besser sehen?“, fragte Fantasius sie besorgt.
“Na ja, auf jeden Fall besser als vorher und jeden Tag mehr“, sagte die Frau.
“Manches möchte man auch lieber nicht sehen, traurige, schlimme Dinge. Manchmal sieht man schwarz, obwohl die Welt eigentlich voller Farben ist.“ Inzwischen war es Abend geworden. Die Lichter der Stadt funkelten in der Dunkelheit als die Frau aus der Augenklinik trat. Sie hat sich vorgenommen, jeden Augenblick ihres Lebens noch mehr zu genießen.
Text + Fotos:
Lilli Vostry
12.12.2023
Geschichten-Zauber: Aufmerksam lauschten Clara und Arthur, die Kinder einer Freundin, dem neuen Geschichten-Abenteuer von „Fantasius Firlefanz und die Kunst des Sehens“. Vorher musizierten sie mit viel Hingabe festliche Weisen am Waldhorn und an der Geige.
Die nächsten Geschichten-Abenteuer mit Fantasius Firlefanz sind schon in Vorbereitung. Auch Texte über die jüngsten Theater-Premieren und neue, interessante und lesenswerte Bücher könnt Ihr demnächst auf meinem wortgarten-Blog lesen. Die wachsende Zahl an Followern freut mich sehr und zeigt mir, dass meine Beiträge gesehen und gern gelesen werden. Das spornt mich weiter an. Natürlich sind auch Spenden für diese reichhaltige und professionelle, journalistische Arbeit bis hin zu eigener Lyrik weiterhin willkommen! Damit meinwortgarten.com auch im Neuen Jahr weiter wächst und gedeiht.
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