„Das Sehnen ist das Lebenselixier. Zwischen Wissen und Sehen, Verstand und Gefühl hin und her springen wie ein Kind, das lachend über Gräben und Pfützen springt…“ Die Schriftstellerin und Poetin Angela Krauß aus Leipzig bei der 11. Kamenzer Rede im September in der Klosterkirche St. Annen. Eine Veranstaltungsreihe zu Ehren und Weiterführung der Ideen des großen Dichters und Wahrheitssuchers G.E. Lessing in seiner Heimatstadt.

Über Gräben springen

Um Sinn- und Wahrheitssuche, den Widerstreit zwischen Verstand und Gefühl, wie beides zusammenkommen kann und Sehnsucht als Lebenselixier ging es in der 11. Kamenzer Rede mit der Schriftstellerin und Poetin Angela Krauß aus Leipzig.

Sie ist eine Suchende, Sinnende, die ihre Gedanken Träume, Erfahrenes und Vorstellungen von der Welt immerzu in Worte fasst. Für sich selbst und andere, um zu vergegenwärtigen was ist, mit allem Schönen und allen Widersprüchen in den Strömen der Zeit. „Es geht ihr dabei immer um den einzelnen Menschen ohne belehrend zu sein und die Suche nach sich selbst, eigene Ansprüche an das Leben“, sagte Michael Hametner, Literaturkritiker und Moderator des Abends zu Beginn über die Schriftstellerin Angela Krauß. Sie hielt die diesjährige, 11. Kamenzer Rede diesmal unter dem Thema „Von Verklärung und Aufklärung“ am 12. September in der Klosterkirche & Sakralmuseum St. Annen in Kamenz. Veranstaltet von der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption in der Heimatstadt des großen deutschen Dichters und Aufklärers zu seinen Ehren ebenso wie zur Auseinandersetzung, Anregungen und Denkanstöße weiterzugeben aus seinem Werk für die heutige Zeit. Mit der Unterstützung von Bund und Land kann dieses für die politische Kultur wichtige Format weitergeführt werden, bei dem Sichten, Einsichten und Irrtümer zur Sprache kommen, sagte der Kamenzer Oberbürgermeister Roland Dantz zu Beginn.

Im Kirchenraum waren alle Plätze besetzt, auf denen weiße Zettel und Stifte lagen für Fragen an die Rednerin. Von den weißen Wänden und Fensternischen strahlte warmes rotes Licht. Von der Empore erklangen feierliche, barocke Klänge von Georg Philipp Thelemann mit dem Streicher-Duo „Carabella“. Zu Beginn gedachten die Zuhörer in einer Minute ehrenden Gedenkens des kürzlich verstorbenen Theologen und Autors Friedrich Schorlemmer, der die erste Kamenzer Kanzelrede, wie sie damals hieß, vor zehn Jahren hielt. Angela Krauß wurde 1950 in Chemnitz geboren und ist zuhause in Leipzig. Sie hat bereits ca. 15 Bücher, schmale zumeist, veröffentlicht. Für ihr literarisches Werk wurde Angela Krauß kürzlich mit dem „Sächsischen Literaturpreis“ 2024 ausgezeichnet. Ihr neues Buch „Das Weltgebäude muss errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen“ erschien in diesem Frühjahr bei Suhrkamp. Sie will dem Leben auf den Grund gehen, so Hametner. Ihr Bauplan vom Weltgebäude suche etwas Anderes. Erwartung als Daseinsweise. Sehnsüchte, die im glücklichsten Fall die Kunst vermag zu fassen, aber nur wenn man bereit ist, sie zu empfangen. In einem Gotteshaus geht es immer auch um die Schöpfung. Was ist aus ihr geworden?, fragte Angela Krauß in ihrer Rede. „Sie ist immer in Bewegung, doch wir kennen nicht ihr Ziel, wissen nicht mal ob sie eins hat.“

Sie sprach über Er- und Verklärer, die es immer gibt, über Verschleierung im Wahrnehmen, die mit den Jahren weniger wird, über das Selbstvergewissern beim Schreiben, zu dem sie sich in den ersten Monaten des Jahres wie die Natur in ihr Gehäuse zurückzieht und ein Gefühl der Zeitlosigkeit und Ewigkeit sie ergreift und über das Bedürfnis verstanden zu werden. Sie sprach über die Zerrissenheit unseres Daseins, den Widerstreit von Verstand und Gefühl und den großen Wahrheitssucher Lessing, der auch unter dieser Zerrissenheit litt. „Wir sind alle Romantiker und waren es als Kinder, bis Vernunft und Verstand das Steuer übernahmen. Das wird gemeinhin als Entwicklung verstanden.“ Doch dass der Verstand alleine nicht glücklich macht, wissen wir längst. „Gefühl und Wissen haben eins gemeinsam, eine gewisse Ungreifbarkeit. Damit hört es schon auf.“ Sie sei eine erkennende Poetin, so Angela Krauß, die durch vier Jahrzehnte Poeterei ihrem vergeistigten Herzen folge. Sie habe keine andere Quelle. „Der Romantiker, das heißt der vom Herzen gesteuerte Mensch, ist verdeckt anwesend. In der Einheit von Geist und Herz nimmt er wahr.“ Die Polarität zwischen Vernunft und trügerischer Unmittelbarkeit des Gefühls sei ein archetypisches Muster. Der Mensch sehne sich aber nach Einheit. Alles was wir erleben im Großen wie Kleinen, laufe auf diesen Kern hinaus. „Das Ungestaltete als Lebensalltag und Nichts greifen, fassen können, das müssen wir aushalten.“

Wie eine Offenbarung und Glücksmomente sind es für sie, wenn Geist und Herz zusammenkommen im Erkennen. „Sobald ich etwas Erlebtes in Worte fasse, laufe ich Gefahr, in Starre zu fallen“, nannte sie den Zwiespalt ihres Berufs. Die vielen eingefangenen, pulsierenden Leben zwischen Buchdeckeln nun zu wissen. „In dem Moment, wenn wir sprechen, formulieren, steht der Widerspruch immer mit im Raum.“ Um so mehr komme es darauf an, sich der Wahrheit immer wieder zu vergewissern. Sie habe begriffen, so Angela Krauß, dass selbst die Liebe eine Provokation sein kann, wider den Zeitgeist, wenn sie dort entsteht, wo sie nicht genehm sei. „Nur die Liebe ist in der Lage, den einzelnen vom Makel seiner Umwelt zu erlösen“, so Krauß. „Ich traue einem einzelnen Menschen mehr als der Gruppe von Menschen, zu der er gezählt wird.“ Dazu gehöre, immer wieder von Neuem auf andere Menschen zugehen. „Alles was wir wahrhaft sagen können, sind Näherungen, behutsam berühren. Das heißt, auch das unsagbare, ergebnisoffene Wesen zu sein.“

„Das Leben weitet und verengt sich. Es pulsiert, Leben ist in keinerlei Ideologie einzuspannen“, sagte Angela Krauß zum Schluss ihrer mit viel Beifall bedachten Rede. „Das Sehnen ist das Lebenselixier. Wäre ich doch wie ein Kind, das lachend über einen Graben oder eine Pfütze springt, vorwärts, rückwärts, nach rechts, links, auf der Stelle zwischen Wissen und Sehen, Ver- und Aufklärung hin und her springend mit allen himmelschreienden Widersprüchen.“

Text + Fotos (lv)

http://www.lessingrezeption-kamenz.de


Reges Interesse am Büchertisch gab es nach der Kamenzer Rede mit Angela Krauß in  der Klosterkirche St. Annen.