
Wie nah oder fern ist Vergangenes, die Geschichte einer Stadt und ihrer Bewohner? Fragt eindrucksvoll aus immer neuen Blickwinkeln die Inszenierung „Der Komet“ nach dem Buch von Durs Grünbein im Kleinen Haus Dresden. Fotos: Sebastian Hoppe
Schwebendes Spiel im Ozean der Erinnerungen
Facettenreich vieldeutige Blicke auf Dresden, das Grauen der Bombennacht und den Umgang mit Geschichte spiegeln sich in bilderreichem, intensivem Körpertheater in der Inszenierung „Der Komet“ nach dem Buch von Durs Grünbein im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden.
Im Halbdunkel der Bühne stehen sie stumm beisammen wie lebende Tote, breiten ihre Arme auf und ab zusammen im Ozean der Erinnerung, in dem sie wie Quallen im Meer treiben um den Schwimmer herum. Sagt mit ihnen fließend eine leise Frauenstimme. Ihre Körper werfen Schatten auf den glatten, sandsteinernen Boden, auf dem schwarz der Stadtplan aufgezeichnet ist, unterteilt in Quadrate wie Häusergevierte, mit schlängelndem Fluss, Straßen und Plätzen. In der Mitte befindet sich eine offene, dunkle Luke, aus der bald immer mehr werden, zum Auf und Abtauchen, Verstecken, Verbergen, Schutz suchen. Davor steht ein kleines Kästchen mit alten Postkarten und Familienfotos. Auf der Bühne verteilt stehen die sieben Darsteller, vier Frauen und drei Männer, in schwarzen Sachen, einer trägt ein weißes Hemd und gehen andächtig, gedankenversunken auf der Umrisskarte der einstigen Stadt ihren Erinnerungen nach. Eine schräge Spiegelwand über der Bühne zeigt das Geschehen und die Darsteller auf doppelter und zusätzlicher Ebene, aus der Draufsicht, wie in der Luft schwebend, entrückt, mit Abstand und ihr Ausgeliefertsein.
Mal scheinen die Darsteller auf einen zuzugehen, mal entfernen sie sich, wenden sich einem zu oder drehen sich um. Blicken einen offen an oder sehen in sich gekehrt vor sich hin. Facettenreich vielsagende und vieldeutige Blicke auf die Stadt Dresden, ihre grausame Bombardierung am 13. Februar 1945 durch angloamerikanische Angriffe, auf das Davor und Danach und den Umgang mit deutscher Vergangenheit in der Gegenwart spiegeln und fügen sich wie in einem Kaleidoskop zu immer neuen, puzzelartigen, starken, prägnanten und intensiven Bildern und eindringlichem Spiel der sieben Schauspielerinnen und Schauspieler in der Inszenierung „Der Komet“ nach dem Buch von Durs Grünbein in der Regie von Tilmann Köhler. Die Uraufführung im Beisein des Autors war am Freitagabend im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden.
Ausgangspunkt dieser Stückentwicklung von Tilmann Köhler, Uta Girod und dem Spielensemble ist seine Erzählung der Lebensgeschichte einer jungen Frau in der Zeit des Nationalsozialismus aus der Sicht des nachgeborenen Enkels. Die 16-jährige Dora W. folgt ihrem Freund Anfang der 1930er Jahre aus Schlesien nach Dresden. Oskar ist Geselle am Dresdner Schlachthof und Dora, die vorher als Ziegenhirtin und Gärtnereigehilfin arbeitete, erlebt mit ihm in der prachtvoll, barocken Kunst- und Kulturstadt ihre „goldenen Jahre“.
Das Bühnenbild (Karoly Risz) verzichtet auf jegliche, nostalgisch wieder auferstehende Bilderkulisse des einstigen Dresdens. Es ist neutral, zeitlos gehalten und es könnte jede andere Stadt sein. Allein aus dem Erzählten, der Schwärmerei von den grandiosen Bauwerken, vielen Geschäften und Cafés und düsteren Kapiteln wie der brennenden Synagoge, von Semper erbaut ebenso wie das nach ihm benannte Opernhaus am Theaterplatz und den schlimmen Zuständen im Schlachthof mit dem Schweinedom im Ostragehege und erschütternden Schilderungen von Überlebenden des Untergangs der Stadt im Flammeninferno, das „Schuldige und Unschuldige“ unter sich begräbt in Schutt und Asche geht hervor, dass es sich um Dresden handelt. Es gibt keine festgelegten Figuren. Das ist teils verwirrend, weil nicht immer klar ersichtlich, um wen es gerade geht. Abwechselnd erzählen und sehen sich die Darsteller Ansichtskarten aus Paris, Familienfotos und Feldpostbriefe aus dem Kästchen an. Da verschmelzen Anekdoten, Betrachtungen und Lebensläufe und -schicksale eigener Familienangehöriger mit der bewegten Geschichte von Dora, liegen Träume, Freud und Leid nah beieinander.
Begleitet wird das Geschehen voll leise anrührender, unbeschwerter bis grotesker, erschütternder, tragischer und dramatischer Momente mit atmosphärisch untermalender Livemusik von Matthias Krieg. Reichlich Beifall vom Premierenpublikum gab es für diese knapp dreistündige Aufführung (mit Pause), die mit großartigen DarstellerInnen behutsam, berührend und beeindruckend vom Alltag, Lebens- und Überlebenswillen, von Hinsehen und Wegsehen, Mitgefühl und Gleichgültigkeit gegenüber Schwächeren und Ausgestoßenen, Macht und Ohnmacht vor dem Schatten des Krieges erzählt, der seine Spuren bis heute in Dresden hinterlassen hat auch im Streit über das Wie des Erinnerns. Eine Aufführung, die noch lange nachklingt, zum Nachdenken anregt und der man möglichst viele Besucher wünscht.
Text (lv)
Mehr Text zur Aufführung folgt.
http://www.staatsschauspiel-dresden.de

Bilder einer Stadt
(Zur Uraufführung „Der Komet“ nach dem Buch von Durs Grünbein)
Vor der Bühne im Habdunkel
steht noch der lindgrüne tiefe Kinderwagen
solch einen hatten wir als Kinder
zum Spielen
Noch ein Blick zurück
auf die sandsteinerne Wüste
mit dem Stadtplan
aufgezeichnet der schlängelnde Fluss
ein Gewirr von Straßen Häusergassen und Plätzen
durchzogen von roten Linien und Kreuzen
bunt verstreut liegen noch die schillernden Faschingskostüme
Clownshüte und ein goldener Zylinder
hinter einer Spiegelwand flimmerndes Zerrbild
letzte närrische Überbleibsel vor dem Inferno
dem sie gerade noch entrinnen eine Mutter mit
ihren Kindern ein Mädchen mit langen Zöpfen
hält ihre Puppe Inge im Arm die sie rettete
so hieß meine Mutter wenige Tage nach Kriegsende geboren
sie trug als Kind Püppchen im Strumpfband unter
dem Kleid heimlich auf dem Schulweg
die sie ansah und trösteten ihre Ängste verbargen
Farben liebte sie aus denen ihre Träume aufstiegen
auf den Leinwänden
Blumen Bäume und Vögel ihr Gezwitscher in allen Tonarten
sahst du gern und maltest zeitlebens
mit unbändiger Leidenschaft in den Bildern verlor
sich alles Schwere
wir fuhren auch manchmal in die Stadt mit den
vielen Türmen am Fluss den Pusteblumen-Brunnen dem Zwinger
mit dem Kronentor und den Wandelgängen mit den
vielen pausbäckig knuffigen und rußigen Sandsteinputten
die Frauenkirche war noch ein dunkler Trümmerberg
das Schloss verfallen
der Goldene Reiter auf seinem Sockel glänzte damals
schon wie die Augen meiner Großmutter wenn sie
vom prachtvollen Vorkriegsdresden erzählte
Ich liebe die vielen Bilder dieser Stadt
in die schonungslos das Dunkle die Katastrophe
wie ein Komet einschlug
und sie dennoch überlebte
LV
25./26.1.2025






































































