Kleine Geschichten mit großer Wirkung über liebenswert schrullige Menschen

In ihrem neuen Buch „Renate löscht. Das Licht“ mit Miniaturen erzählt Manuela Bibrach in lyrisch bildhafter Sprache, voll überraschender Wendungen, skurril bis fantastisch von Einsamkeit, Rückzug, Erinnerungen und Träumen in einer immer lauteren, schnelllebigen Welt. Die witzig-fantasievollen Grafiken stammen von Pètrus Akkordeon.

Leben wie in Zeitlupe beobachtet. Es passiert nicht viel. Oder die darin Vorkommenden ahnen, aber sehen und spüren es nicht mehr. In den Titeln dieser Geschichten klingt schon an, was sein könnte und es erschwert. Und nichts ist wie es auf den ersten Blick scheint. Das Buch „Renate löscht. Das Licht.“ mit Miniaturen von Manuela Bibrach und witzig-fantasievollen Grafiken von Pètrus Akkordéon erzählt in prägnanter, bildhafter Sprache voll überraschender Wendungen von Menschen, die einsam sind, die ihre Träume verloren oder aufgegeben haben, die sich zurückziehen, abschotten und die Gardinen zuziehen, die sich und die Welt nicht mehr verstehen. Erschienen 2025 im dr. ziethen verlag Oschersleben, 80 Seiten, 15 Euro.

Der Band versammelt 28 kurze Texte in lyrischer Kurzprosa, in oft karg, sachlich nüchternen Sätzen, mit Wiederholungen und Wortspielen, welche die Monotonie im Alltag der Figuren betonen und im Kontrast zu ihren Träumen und Sehnsüchten stehen. Die Überschriften sind mehrdeutig, offen, mit Punkten wie Pausen gehalten. Akzente. Weglassen und Hinzufügen. Dadurch entstehen neue Sinnwendungen. Die Leer- und Zwischenräume und Andeutungen in den Zeilen kann der Leser selbst füllen und weiterdenken. Die Sprache ist direkt, präzise, fast streng, zuweilen naiv kindlich, teils wie flüchtig hingeworfene Notate. Manchmal wirkt das Stilmittel der Wiederholungen allerdings bemüht und aufgebauscht, wenn sie die Sätze rigoros abschneidet, abbricht, Punkte setzt. Vieles unausgesprochen bleibt, um es nachzuvollziehen, warum die Figuren sind wie sie sind. Doch vielleicht ist das auch beabsichtigt von der Autorin. Soll man sie nehmen wie sie sind. Mit allen Eigenarten, Stärken, Schwächen und Unerklärlichkeiten, ihnen mit Offenheit und Neugier begegnen.

Das ist auch das Besondere, der Reiz und die Stärke dieses Buches, das einen mit seiner knappen, rätselhaften, seltsamen und poetischen Sprachmelodie immer mehr hineinzieht und lange nachhallt. Diese Texte von Manuela Bibrach sind oft traurig-komisch, skurril, absurd, geheimnisvoll und fantastisch. Jedenfalls scheint sie die Protagonisten in ihren Geschichten und ihr Innenleben gut zu kennen und kann sich gut in sie hineinfühlen mit all ihren Marotten, Ängsten, Sorgen und Alleinsein, die sie abhalten, so zu leben wie sie eigentlich möchten. Ihren Figuren ist gemeinsam, dass sie individuell, feinfühlig, dünnhäutig und sensibel sind, nicht so viel aushalten wie andere und Schutz suchen nach innen. Sie zeigt auch wie anders jeder damit umgeht, mit dem Erlebten, Erfahrungen und Prägungen der Vergangenheit, in der Familie und später im eigenen Leben.

Wie Renate in der Titelgeschichte, die anscheinend mit der Welt abgeschlossen hat. Sie lebt mit einem Wellensittich und einer Katze zusammen und schenkt sich Glas um Glas ein. Sie löscht, betäubt alle Regungen. Auch als der Vogel still in der Gardine hängt. Oder „Gabi. Flügel“, die glaubt, dass sie fliegen kann wie ihr Lieblingsheld Arthur der Engel aus dem Trickfilm, der mit einem Schirm aus dem Himmel herabschwebt. Sie hat Angst, dass ihre Eltern eines Tages wortlos verschwinden, will deshalb auf dem schnellsten Weg zu ihnen gelangen und sie aufhalten und steigt eines Tages aufs Garagendach als sie sie fortgehen sieht. „Vögel. Ameisen“ erzählt über schräge Vögel wie Eddie mit den langen Haaren, durch die kein Blick dringt, der gern Gitarre spielt, natürlich Moll. Seine Zuhörer sind Tauben und Spatzen vor dem Fenster. Nichts gelingt ihm. Bücher hat er genug im Regal und entzündet mit einigen ein Lagerfeuer, auf einmal spielt er die Akkorde gekonnt, die Musik ist etwas wofür er brennt. Bonny klickt Musikvideos und vergisst dann alles um sich herum. Sie fühlt Schmerz. Janis Joplin hat ihn ans Licht gesungen. Das ist wunderbar beschrieben. Bonny fühlt sich „very special“, da hat sie was, woran sie glauben kann und schluckt Tabletten.

Gerlinde spricht mit ihrem Puppenkind Rosalinda, da sie sonst keinen hat. „Gitti. Verzaubert“ erzählt von einer Frau, die mit ihren Pflanzen redet im Garten, ihrem Refugium, in dem ein Hund und Katzen auf mysteriöse Weise verschwinden.   „Freiheit. Unter Wasser“ entführt zusammen mit Merit, die das Meer liebt und sich ihren Traum von einer Schiffsreise erfüllt, surreal, lustig und gruselig zugleich in eine  Unterwasserwelt mit Amphibienmenschen, die unter Wasser atmen können und plötzlich taucht ein Seeungeheuer auf. Die Grenzen zwischen Mensch- und Tiersein verfließen wundersam in der Geschichte über die Katzenfrau Ida, die sich räkelt, maunzt und ihre Krallen feilt, und ihren sie kurz anbellenden Nachbarn mit Aktentasche unterm Arm. Anrührend, geheimnisvoll und mit offenem Ende erfährt man außerdem von „Krüll. Vanille“ über einen alten Mann und seine Begleiterin, seine Pfeife mit Vanilleduft, der unerwartet Besuch erhält. Schön ironisch  und mutmachend die Geschichte „Nele. Bunt“, die eigentlich Cornelia heißt, ihren Namen abkürzt in Nele und sich selbst klein macht. Obwohl Nele viel fröhlicher klingt, unbeschwert und spontan. Sie denkt, dass sie zu dumm ist für diese Welt. Sozial inkompetent. Weil sie die Regeln nicht versteht. Hat ihr Therapeut gesagt. Nele muss an sich arbeiten. Um stark zu werden. Und gelassen.
Warum darf sie nicht sie selbst sein?!

„Renate löscht. Das Licht“ ist das zweite Buch von Manuela Bibrach und ein Spiel mit neuen Ausdrucksformen. Ihr erstes Buch, „Radio mit Naturstimme“ mit Gedichten erschien im selben Verlag. Es war eine Abwechslung von der Lyrik, sagt sie, und die Geschichten schrieben sich fast von selbst. Momentan ist sie wieder bei der Lyrik, ihrer eigentlichen Leidenschaft. Manuela Bibrach wurde 1971 in Dresden geboren und lebt inzwischen in der Oberlausitz. Sie absolvierte eine Ausbildung als Diplomingenieurin (FH) für Landschaftsnutzung und Naturschutz, vertieft mit Umweltbildung und Psychologie. Seit 2015 ist sie Mitglied im Literaturforum Dresden und seit 2018 der Oberlausitzer Autorenrunde. Für ihre Lyrik wurde Manuela Bibrach mit dem Klopstock-Förderpreis 2024 ausgezeichnet.

Es sind kleine Geschichten mit großer Wirkung, berührend und beeindruckend, über liebenswert schrullige, empfindsame und eigensinnige Menschen, die mehr als einmal vom Leben enttäuscht wurden. Frauen und Männer, die mehr oder weniger damit klar kommen, mit sich und der Welt draußen hadern, die ihnen zu laut, grell und schnell geworden ist. Die sich deshalb zurückziehen in ihr Schneckenhaus, noch mehr allein sind, abstumpfen oder ihre Marotten pflegen, in Erinnerungen kramen und nach und nach entdecken sie und stellen überrascht fest, dass sie weit mehr sein können als gedacht. Trauen sich und wagen wieder etwas. Holen wieder Licht in ihr Leben. Weil sie wieder an etwas, vor allem sich selbst glauben.

Text + Foto (lv)