Besessen von Macht über die Mensch- und Naturwelt: Den Herrscher Pentheus spielt im Zwiespalt von Härte, Vernunft, Instinkt und Gefühl grandios voller Leidenschaft Leonie Hämer, begleitet von Rauschgott Dionysos, hier mit Torsten Ranft, der in mehreren Rollen glänzt. Fotos: Sebastian Hoppe

Im Rausch der Macht und Verführungen

Die Welt menschlicher Ordnung, Kalkül, Kontrolle und Größenwahn prallt mit der animalischen Wildheit, Freiheit und Zügellosigkeit des Gottes der Ekstase und seinem Gefolge mit aller Faszination, Kontrasten und Widersprüchen aufeinander im Stück „Die Bakchen“ von Thomas Melle nach Euripides im Kleinen Haus in Dresden.

Die Spielfläche ist dunkel, verkohlt und von Rissen durchzogen. Das Erdrund in Schieflage. Die Darsteller sitzen im Halbdunkel in grauen Gewändern, abwartend, schweigend beidseits der Bühne. Alles ist knapp, Wasser, Kaffee, Essen. Sie wollen sich etwas bestellen per Lieferdienst und am besten gleich noch ein neues System. Eine Seuche ist im Land ausgebrochen. Die Bewohner trauen sich nicht das Haus zu verlassen. „Da ist was im Gange. Da braut sich was zusammen. Ich hör`s doch!“, ruft einer. Der Sog nach draußen wird immer stärker und bald werden sie ihm auf verschiedene Weise folgen. Antik, mystisch, geheimnisvoll, unheimlich und zugleich ganz heutig, vor abwechselnd dunkel karger, grell leuchtender und urwüchsiger Kulisse mit Bäumen, verzweigt und verwurzelt auf der runden Fläche, kam die Tragödie „Die Bakchen“ von Thomas Melle nach Euripides unter Regie von Lilja Rupprecht auf die Bühne. Die Premiere war letzte Woche Donnerstag im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden.

Die Bakchen, uraufgeführt 405 v. Chr., ist das letzte Stück des griechischen Dramatikers Euripides. Er gewann damit posthum den ersten Preis des Tragödienwettbewerbs von Athen, Das Stück erzählt vom Dionysos-Kult, auch Bacchus genannt, dem Gott des Rauschs und der Ekstase und seinem Gefolge, die Bakchen. Sie verkörpern entfesselte animalische Wildheit, Freiheit, pure Daseinsfreude, Lust und Hingabe an die Urnatur mit ihren eigenen Gesetzen im Gegensatz zur menschlichen Welt der Vernunft, Kalkül, Ordnung, Macht und Kontrolle. Die beiden konträren Welten prallen mit aller Faszination, Kontrasten und Widersprüchen aufeinander und eskalieren in dieser Inszenierung.

Eine Frau in silbern schimmerndem Kleid und langem blonden Zopf, Agaue die Mutter von Pentheus (selbstbewusst. aufbegehrend und innerlich zerrissen: Christine Hoppe) spürt einen verlockenden Sog nach draußen und geht fort. Vergeblich versuchen die anderen sie zurückzuhalten. Sie verlässt die Welt der Männer und ihre Regeln, das Drachengeschlecht, die verhasste Saat. Ihren Sohn Pentheus, den Herrscher von Theben. Es zieht sie in die Naturwelt, in den Wald voller Wunder und Gefahren, wo Dionysos und sein Gefolge, die Bakchen herrschen. Agaue trägt nun ein sonnengelbes Kleid, steht mitten im Wald, fühlt sich wie im Traum sinnenberauscht, schwärmt von dieser neuen Welt ohne Grenzen, wo alles möglich ist, sie will keinen Menschen und kein Raster der Sprache mehr sehen, ganz hingegeben an die Natur und den Gott Dionysos verfällt sie immer mehr dem Rausch. Ebenso wie einige andere Bewohner von Theben, die sich hemmungslos begeistert dem neuen Kult hingeben. Darunter der Seher Teiresias in neonfarbener Rettungsweste (Thomas Eisen) der verzückt mit erhobenen Armen und tänzelnd Dionysos huldigt. Kadmos, der Gründer von Theben und Vater von Agaue im grauen Anzug (Torsten Ranft) ruft ekstatisch nach „dem Rausch, Exzess, die Endzeitsteuer auf dem Vulkan tanzen!“

Sie verehren und sehen in Dionysos einen Heilsbringer, eine Droge für alles.
Zugleich warnen sie Pentheus, er soll ihn nicht verachten und bekämpfen. sondern sich Efeu ins Haar legen und den neuen Gott annehmen. Der wahre Irre sei er, Pentheus, sagt Teiresias wütend. Ein Bote von Pentheus (Jakob Fließ) erzählt fasziniert und verunsichert zugleich von Wundern und grausamen Taten der Bakchen im Wald. Mischwesen aus Mensch und Tier. Frauen stillen ihre Kinder und außerdem Rehe und Wölfe. Doch die Idylle trügt. Natur und Wildnis treffen aufeinander mit aller Schönheit, Vollkommenheit und Härte im natürlichen Leben-Tod-Kreislauf. Die Bakchen feiern Feste und die Natur, aber töten Tiere brutal und verwüsten alles im Rausch. Das ganze Ausmaß schildert in einem eindringlichen Monolog der Bote Pentheus`(Jakob Fließ): „Wir sind die Natur und fordern sie heraus, Wir sind die Gefahr! Wir fressen Tiere und fressen uns durch die Welt. Die Vögel schreien, wenn sie uns sehen!“ Das klingt wie eine Anspielung auf die aktuelle, grassierende Vogelgrippe im Land.

Begleitet wird das Geschehen von pulsierenden, pochenden Klängen von Musiker Philipp Rohmer. Pentheus (Leonie Hämer) erscheint in kurzer schwarzer Lederjacke, Rock und in Stiefeln. Pikanterweise wird der Despot von einer Frau gespielt, die so scheint es noch eins draufsetzt, mit noch mehr Härte und Drohgebärden agiert, um sich in der Männerwelt an der Macht zu behaupten. Das Gesicht streng mit zurückgekämmtem, dunklen Haarknoten. Stolz, kalt und arrogant will sie Dionysos und die Bakchen vernichten. Der Fremde soll dafür büßen, tobt sie, der wie eine Seuche über das Land kam und für Unruhe sorgt. Dionysos (Philipp Grimm) betritt zunächst scheu, lang schlaksig und das Haar zum Pferdeschwanz gebunden die Bühne. Stellt sich vor als Gott und Sohn von Zeus, als der er aber nicht anerkannt wird, sondern als unehelicher Bastard. Seine irdische Mutter Semele wurde getötet. Dionysos fühlt sich als Außenseiter und will seine Herkunft und Ruf verteidigen, sagt er zornig. Er zieht sich nackt aus, bemalt seinen Körper und schreibt mit grauer Farbe das Wort „Ent-Sorgen“  groß auf die Bühne. Pentheus ilässt seinen Widersacher gefangennehmen und wie Abfall wird er weggeworfen hinter die Bühne.

Doch Dionysos kehrt wieder in immer neuer Gestalt. Mal als puppenhafte Popsängerin mit blonder Mähne und abwechselnd betörender und Mickymaus-Stimme sehr grell und künstlich wie für die Teenies der Tiktokgeneration. Mal als skurrile Gestalt in einem unförmigen grauen Gewand mit Fransen und Hut, die plötzlich froh alle Schwere hinweg tanzt. Und als sturmerprobter, unerschütterlich fröhlicher, bärtiger Kapitän spielt ihn Torsten Ranft mit viel schmissiger Ironie, singt Seemannslieder zu Akkordeonklängen, animiert das Publikum zum Mitsingen und dazu braust das Meer in hohen Wogen auf der Leinwand und Bühne. Der Kapitän will Pentheus vor dem Schiffbruch retten und lockt ihn, ob er denn gar kein bisschen Lust habe, die Welt der Bakchen zu sehen?! Er willigt ein, schließlich muss man seinen Feind kennen, um ihn zu bekämpfen. Man muss ein Tier werden, um die Bakchen zu verstehen, sagt Dionysos als Kapitän. Pentheus zieht sich ein Fell an, geht zu Boden und kriecht auf allen vieren umher. Herrlich komisch wie er sich windet, wild wird, nackt schreiend über die Bühne rennt und seinen Verstand beiseite lässt. Berührend und beeindruckend spielt Leonie Hämer den Zwiespalt und die innere Zerrissenheit ihrer Figur, als Herrscher die Verantwortung für das Land zu haben und außerdem auf das Gefühl und Sinne, die Verbundenheit mit dem Ganzen zu achten. Ein schönes, zartes und nachdenkliches Lied darüber „Frei zu sein“ singt Thomas Eisen zur Gitarre.

Schließlich klettert Pentheus, im Mantel, blauen Dessous und Flügeln, mit Dionysos auf einen Berg, um die Bakchen heimlich zu beobachten. Sie will im Größenwahn den ganzen Wald heraus reißen und auf ihren Schultern tragen. Die wahre Natur zeige sich stets kurz vor dem Zerfall!, kommentiert Dionysos Die Bakchen entdecken und verhöhnen Pentheus, der das Unsterbliche besiegen will, sehen ihn als Eindringling, Spion, Frevler und nehmen grausame Rache an ihm. Ausgerechnet seine Mutter tötet  ihn in blindem Rausch. Sie hielt ihn für einen Löwen und sieht entsetzt den abgeschlagenen Kopf ihres Sohnes in ihren Händen im gelben, blutbefleckten Kleid. Ihrem Vater Kadmos wäre es lieber, sie bliebe im wahnhaften Zustand, um ihr den Schmerz zu ersparen. Einzelne, übergroße, nachgebildete Körperteile liegen verstreut auf der Bühne. Sie und ihr Vater fügen die Teile wieder zusammen um den Kopf.
Ein Kind sitzt dort und sagt ihnen eine lange Wanderung und Kriege voraus, aus denen sie nicht mehr herausfinden werden. Ihre Reue käme zu spät. Natur wird wieder Natur, sagt das Kind. Pentheus erscheint zum Schluss noch einmal als rein reflexhaft reagierendes, rätselhaftes Wesen. Die Aufführung zeigt zugespitzt drastisch, was passiert, wenn menschliche Vernunft und Emotionen zuwiderlaufen, sich bekämpfen und verschiedene Ansichten über Zustände in der Gesellschaft blindlings in Radikalität und Fanatismus ausarten. Ein streitbares, vieldeutiges Stück mit viel Stoff zum Nach- und Weiterdenken. Viel Beifall gab es vom Premierenpublikum.

Text (lv)

http://www.staatsscbauspiel-dresden.de


Zwischen Sinnesrausch & blinder Zerstörung: die Bakchen und ihre Anhänger inmitten auseinander gerissener Körperteile auf der Bühne.