Zwischen Traum- und realer Welt: Was ist echt, was eingebildet? Fragt das Stück „Der Sandmann“ nach der Erzählung von E.T.A. Hoffmann im Kleinen Haus. Hier eine Szene mit Jonas Holupirek und Nadja Stübiger. Fotos: Sebastian Hoppe

Aufrüttelnde Traumgeister

Ein bilderstarkes, berührendes und beunruhigendes Spiel zwischen Traum und Wirklichkeit, Sehen, Erkennen und dem Zwiespalt von innerer und äußerer Freiheit ist die Inszenierung „Der Sandmann“ nach E.T.A. Hoffmann im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden.

Ein Labyrinth aus schwarz-weißen und farbigen Linien überzieht die Bühne. Rot, blau, grün und gelb, abwechselnd schlängelnd und starr wie Gitterstäbe ragen in den Raum. In der Mitte steht ein Metallgerüst, ein Turm. Ein Mann mit weißgrau zauseligem, schulterlangen Haar geht auf und ab und schiebt, verrückt die Wände hin und her als könne er die Wirklichkeit dadurch verändern. Vor der Wand werden Türen auf und zu gestoßen in eine andere, rätselhafte Traumwelt. Auf einer Videoleinwand erscheinen immer wieder groß die Gesichter der Darsteller, Frauen und Männer in dunklen Anzügen, das Haar zurückgekämmt und geisterhaft weiße Gesichtszüge mit großen dunkel und rot geränderten Augen. Sie erzählen abwechselnd die seltsame Geschichte des Studenten Nathanael, dessen Begegnung mit dem Wetterglashändler Coppola in ihm Erinnerungen an offensichtlich traumatische Kindheitserlebnisse wachruft.

Wundersam, geheimnisvoll und unheimlich zugleich, voll schwebend, verlockender und düsterer Bilder, sphärischer Klänge und ergreifend schöner, dunkler und gefühlvoller Poesie kam die surreale Traumerzählung „Der Sandmann“ nach E.T.A. Hoffmann in einer Inszenierung unter Regie von Sebastian Klink, Bühne und Kostüme: Gregor Sturm, Livekamera: Christian Rabending und mit Livemusik von Friederike Bernhardt auf die Bühne. Die Premiere war am vergangenen Sonnabend im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden. Hoffmanns 1816 erschienene Erzählung „Der Sandmann“ ist seine bekannteste, sie stammt aus dem Zyklus „Nachtstücke“ und wird der Schwarzen Romantik zugeordnet. Doch es ist weitaus mehr als ein Schauermärchen, gehört zu den vieldeutigsten und am häufigsten untersuchten Texten der deutschsprachigen Literatur, ohne ihn zweifelsfrei ergründen zu können. Das macht den Reiz dieser Erzählung bis heute aus.

Ein junger Mann mit sandfarbenem Wuschelhaar (Jonas Holupirek), der in seiner neugierig-aufsässigen und lausbubenhaften Art etwas an den Struwwelpeter und feinsinnig-verträumt an den Kleinen Prinzen von Saint du Exupéry erinnert, steht da auf der Bühne. Im dunklen Mantel, der auf der Rückseite wie eine Leinwand mit Klaviertasten und farbig bemalt ist und oberkörperfrei, erzählt der Student Nathanael und angehende Künstler rückblickend über ein gravierendes, ihn nie wieder loslassendes Kindheitsereignis. Er liebte schauerliche Geschichten über Zauberer, Hexen und Däumlinge, „der Sandmann“ zog ihn auf die Spur des Abenteuerlichen. Nachtbilder steigen auf, Erinnerungen an jene zwiespältige Figur, die den Schlaf und die Träume bringt, aber auch Sand in die Augen streut, wenn die Kinder nicht schlafen wollen. Erzählt die Mutter (Gina Calinoiu) mal besonders gruslig, mal beschwichtigend, den Sandmann gebe es gar nicht wirklich. Doch Nathanael wartet auf ihn und will ihn sehen. Zumal er des nachts Geräusche im Haus hört, jemand klopft an die Tür. Er erzählt von den Besuchen des vermeintlichen Sandmann Coppelius, den er zusammen mit seinem Vater bei deren alchemistischen Experimenten im Labor heimlich beobachtet, wie eine blaue Flamme aus dem Herd schießt und er sieht mechanische Wesen, ohne Augen und Körper, die an Puppen erinnern.

Er wird von Coppelius entdeckt und verfällt danach in eine Art Todesschlaf. Der Schrecken erreicht seinen Höhepunkt, als bei einer Explosion im Versuchslabor mit lautem Knall, Rauch und rot loderndem Licht Nathanael seinen Vater mit schwarz verkohltem Gesicht findet. Er will den Tod des Vaters rächen und glaubt im Wetterglashändler Coppola jenen Advokaten Coppelius wiederzuerkennen. Seine Verlobte Clara (auch als Schwester und Olimpia abwechselnd sanft, mitfühlend und abweisend kalt: Ursula Hobmair) und sein Freund Lothar, ihr Bruder (salopp-lebenslustig: Friederike Bernhardt) versuchen ihm sachlich und aufmunternd seine düsteren „Einbildungen“ auszureden, der Vater sei durch seine eigene Unvorsicht ums Leben gekommen und nicht durch Coppelius. Doch es hilft nichts. Nathanael zieht sich immer mehr zurück, daran ändern auch lange Briefwechsel und ein inniger Tango mit Clara nichts. Er verfällt immer mehr in Schwermut und dunkel abgründige Dichtung und verliebt sich sehnsuchtsvoll-schwärmerisch und verzweifelt in die ebenso schöne wie unerreichbare Olimpia, ein Mädchen, das er eines Tages im Fenster gegenüber mit einem Fernrohr sieht mit seltsam leerem Blick.

Clara und Nathanael entfernen sich immer mehr voneinander. Sie hält ihn bald für einen „Geisterseher“. Tatsächlich wandelt der Geist seines unruhevollen Vaters (Torsten Ranft) des nachts weiter im Haus umher und zitiert Verse von Edgar Allan Poe mit schwarzen, ungerührt dasitzenden und krächzenden Raben, die fortfliegen nimmermehr… Nacheinander fahren sie wie in einem Fahrstuhl hinauf auf den Turm hinter Glas, der ihnen aber auch keine neuen Aussichten bringt, sondern nur einen neuerlichen Blick in den Abgrund. Am Schuss liegen unzählige Gläser auf der Bühne verstreut und ein umgestürztes, schwarzes Kreuz wie ein großer, dunkler Vogel.

Ein bilderstarkes, fantastisches, berührendes, beunruhigendes und tragikomisches, philosophisches Spiel zwischen Traum und Wirklichkeit, über Sehen, Wahrnehmen und Erkennen im Zwiespalt von innerer und äußerer Welt und Freiheit, die ständig miteinander ringen brachte „Der Sandmann“ mit auf die Bühne im Kleinen Haus. Ein Stück darüber, was passiert, wenn kindliche Neugier, Fantasie und Entdeckerlust unterdrückt werden und nicht ausgelebt werden dürfen, Begabungen, Intuition und Vorstellungskraft sich nicht kreativ, schöpferisch entfalten können, sondern Ängste und Schatten übermächtig werden und die Kraft der Fantasie innerlich gefangen nimmt und gegen einen selbst zerstörerisch wirkt. Bei aller Mehrdeutigkeit eine klare Aufforderung, den eigenen Augen und Sinnen für das Wahre, Schöne zu vertrauen in einer Welt voller Verlockungen und Unsicherheit. Viel Beifall gab es dafür vom Premierenpublikum.

Text (lv) http://www.staatsschauspiel-dresden.de


Stelldichein der Nachtgeister: Auf dem Bild Nadja Stübiger, Torsten Ranft und Gina Calinoiu.