Zum Welttag des Buches am 23. April – nun auch schon wieder vorbei – hier zwei Empfehlungen von mir, die ich schon länger vorstellen wollte, da sie ein besonderes Lesevergnügen sind!

Verrückt-komische Jagd von Monstern der Moderne auf flüchtige Fantasie-Wesen

Ein weißer Vogel mit aufgespannten Flügeln und spitzem Schabel überfliegt ein Meer aus grauen Blasen. Winzig steht orange am Rand der Buchtitel „Die Flüchtigen“ von Alain Damasio, aus dem Französischen übersetzt von Milena Adam. Die Flüchtigen, das sind in diesem Roman jene wundersamen Wesen, die im toten Winkel der Wahrnehmung in den Menschen leben, die für Fantasie, Lebendigkeit und echtes Leben stehen und gnadenlos gejagt werden von ominösen Techniküberwachern. In ihre Fänge gerät Lorca, ein Mann Mitte 40, dessen kleine Tochter Tishka eines Morgens verschwunden ist, obwohl alle Fenster und Türen verschwunden sind. Er und seine Frau Sahar vermuten, dass Tishka bei den Flüchtigen ist. Lorca begibt sich auf die unmöglich scheinende Suche nach ihr. Damasios Roman entführt hochspannend, fantastisch, geheimnisvoll und düster, beklemmend zugleich, voller verrückt komischer Einfälle in sehr atmosphärischer, bildreicher und poetischer Sprache mit faszinierenden Wortschöpfungen in eine hochtechnisierte, digitale Welt und Schein-Realität voller Illusionen, die mal sehr fern und dann wieder erschreckend nah wirkt. Es ist ein atemberaubender Blick in die Zukunft, über die Möglichkeiten und Grenzen moderner Kommunikationstechnik, mit der der Mensch immer mehr in virtuelle Räume vordringt und sich immer mehr von der Natur und seinen Ursprüngen entfremdet. Ein beeindruckendes, wagemutiges, unheimlich fesselndes Buch, eins der besten der letzten Jahre!

Alain Damasio „Die Flüchtigen“, erschienen im Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2021, 838 Seiten, 28 Euro.

Wundervolle Reise durch die Zeit, Landschaften und die Geschichte Mitteleuropas

Es ist eine Geschichte voller Zufälle, merkwürdiger Begegnungen und Begebenheiten, die vieles aus der Vergangenheit ins Hier und Jetzt holen, Erinnerungen wachrufen, Träume ins Leben zurückholen und alte Wunden heilen. Wundervoll, skurril, abenteuerlich, traurig, komisch und aufschlussreich erzählt Jaroslav Rudis in „Winterbergs letzte Reise“ – seinem ersten auf Deutsch geschriebenen Roman, der 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik nominiert war – die Lebensgeschichte eines alten Mannes, Wenzel Winterberg, geboren 1918 in Liberec, Reichenberg und des ihn begleitenden Altenpflegers. Jan Kraus, der aus Vimperk in Böhmen, das früher Winterberg hieß, kommt. Am Krankenbett in einem Altenheim in Berlin lernt er Winterberg kennen, der gelähmt und abwesend im Bett liegt. Es sind Kraus` Erzählungen aus seiner Heimat, die Winterbergs Lebensgeister wieder wecken und er hat noch einen Wunsch: mit Kraus zusammen eine letzte Reise antreten, auf der Suche nach einer verlorenen Liebe. Sie begeben sich auf eine Eisenbahnreise, die sie durch die Geschichte Mitteleuropas führt. Rudis nimmt seine LeserInnen mit auf eine außergewöhnliches, packende und berührende Reise durch verschwundene und gegenwärtige Landschaften, Länder und Zeiten. Und so landen sie auf dem einstigen Schlachtfeld bei Königgrätz, in diesem Wald im Schnee. Der Rhythmus der lebhaft, kraftvoll, detailreichen Sprache hat einen eigenen Sog, mal melodisch, ruhig fließend wie die Züge, mal bewegt, längere und kurze Textpassagen, manchmal nur ein Wort. Es geht nahe, tut weh und gut in seiner schonungslosen Direktheit in der Beschreibung des todkranken Patienten, wie er sich noch einmal aufrafft ins Leben, die Orte besucht, die schrecklichen und schönen, die ihn nicht loslassen, um zu finden, was er sucht. Wunderbar, voller Ironie, Leichtigkeit und Hintersinn die Gespräche der beiden über Geschichten und Geschichte, aus der es kein Entkommen gibt, die sich wehrt, uns angreift, in der man sich sogar vielleicht verlieren muss, um sie zu verstehen, die Geschichte. Und man darf nicht aufgeben. Man muss versuchen sie zu verstehen. Winterberg sagt wie nebenbei Sätze, die aufhorchen lassen, über die Lieben und die Krisen und vor allem über die Kriege. „Wir wissen immer, wenn es vorbei ist, doch wir wissen nie, wann es angefangen hat zu bröckeln.“

Jaroslav Rudis, „Winterbergs letzte Reise“, erschienen im Luchterhand Literaturverlag München, 2019, 540 Seiten, 24 Euro.

Texte (lv)

Weitere Leseeindrücke und Buch-Tipps folgen demnächst.