Gesichter des Krieges: Elena Pagel zeigt sie und gibt ihnen eine Stimme. Jeder Kurzfilm erzählt eine biografische Geschichte, persönlich, berührend und eindringlich. Der erste und preisgekrönte heißt „Kurz vor dem Sonnenaufgang. Hanna“ (zu sehen auf Youtube – Weseliska Film). Eine Szene daraus ist auf dem Bildschirm in dem kleinen Filmstudio in ihrer Wohnung zu sehen.

Kurz vor Sonnenaufgang
kam der Krieg

In ihrem preisgekrönten Kurzfilm erzählt die aus Russland stammende, in Dresden lebende Künstlerin Elena Pagel berührend die Geschichte von Hanna, wie sie den Kriegsbeginn vor einem Jahr in ihrem Haus bei Kiew erlebte, über ihre Ängste, Kummer und Hoffnungen. Weitere Filminterviews mit Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine sind in Arbeit.

Hinter den dunklen Hochhäusern mit vereinzelten Lichtern steigt Rauch auf. Sirenen und Schüsse zerschneiden die Stille, der Himmel ist feuerrot. Eine Frauenstimme erzählt in herzergreifenden Worten zu erschütternden Bildern von dem Morgen, als der Krieg in der Ukraine begann. Wie das Haus vor Angst bebte, in der Dämmerung des Schlafzimmers die Schatten schwer hingen, die Welt zu Staub zerfiel und der Himmel in fremdem Russisch sprach. Über das Dorf flogen Vögel nach Hause und Raketen. Wie sich das Leben der Menschen seit dem russischen Angriffskrieg Putins vor einem Jahr drastisch veränderte, von ihren Ängsten, Kummer und Hoffnungen erzählt der Kurzfilm „Kurz vor Sonnenaufgang. Hanna“ von Elena Pagel. Dieser entstand in ihrem im März 2022 begonnenen Filmprojekt mit Erzählungen von in Dresden lebenden Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine (zu sehen auf Youtube – WEseliska-Film).

Mit diesem Kurzfilm gewann die aus Russland stammende, in Dresden lebende Künstlerin den Wochenblatt-Publikumspreis bei den 6. Arlesheimer Kurzfilmtagen im Februar in der Schweiz und 500 Franken Preisgeld. Insgesamt wurden 20 Kurzfilme im Wettbewerb eingereicht bei diesem Online-Festival unter dem Motto „Ankommen“, bei dem die Zuschauer abstimmen konnten. Außerdem wurden zwei Jury-Preise vergeben. In ihrem preisgekrönten Kurzfilm verbindet Elena Pagel dokumentarische Nachrichtenbilder zum Ukraine-Krieg aus dem Internet und selbst geführte Interviews mit Geflüchteten.

Eine von ihnen ist Hanna Anikeieva. Sie ist Gestalttherapeutin, von ihr stammt das Gedicht im Film und sie war die Erste, mit der Elena Pagel sprach. Der Haarknoten auf ihrem Kopf schaukelt, sie trägt einen blauen Anorak und hält einen kleinen Hund mit Strickpullover in den Händen, während sie vor einer rußgeschwärzten Sandsteinmauer und unter einem Baum im Hof der Villa Eschebach am Albertplatz vor der Kamera ihre bewegende Geschichte erzählt. Wie sie den Kriegsbeginn erlebte und einen 15-jährigen Nachbarsjungen mitnahm auf ihrer Flucht, da seine Eltern sie darum baten. Über die Westukraine, Budapest und Wien kamen sie nach Dresden. „Sei! Gib nicht auf! Hörst du“, sagt Hanna im Film flüsternd und beschwörend an ihre Landsleute und ihre Heimat gerichtet. „Ich werde mich an dich erinnern! Ich werde dich als zarte Last bei meinem Herzen tragen.“ Sie erzählt von der großen Hilfe der Freiwilligen, unter ihnen Russen, Ukrainer und Deutsche, die sie in Dresden erlebte. „Es war sehr rührend und gibt Hoffnung“, sagt Hanna.

Schweren Herzens verließ sie ihr langerträumtes Haus in einem Ort bei Kiew. „Als der Krieg begann, wurde mir klar, dass das Haus, das Materielle mich nicht schützen kann. Das was schützen kann, sind Kommunikationsfähigkeit, hilfsbereite, emphatische Menschen und die Begabung, eine gemeinsame Sprache zu finden. Außerdem Fähigkeiten und Fertigkeiten generell“, ist ihre wichtigste Erkenntnis. Und Hannas größter Wunsch, dass „Verwandte, Freunde und Bekannte am Leben bleiben und der Sieg kommt für die Ukraine.“ Eine Woche war sie bei Elena Pagel, dann reiste sie nach Spanien weiter und wohnt inzwischen in einer Wohngemeinschaft in Malaga. Sie sind weiterhin in Kontakt, telefonieren oft.

„Ich war schockiert, als dieser Krieg begann. Auch weil ich viele Freunde, Kollegen und Bekannte durch gemeinsame Fotoprojekte und Ausstellungen in der Ukraine habe und eigentlich im Februar in Urlaub dorthin fahren wollte“, sagt Elena Pagel, die aus Sibirien kommt und seit 24 Jahren mit ihrer Tochter in Dresden lebt. Sie half beim Übersetzen ins Deutsche. „Mit meinen Kurzfilmen will ich auch das russische Publikum erreichen, damit sie auch die andere Seite des Krieges und Geschichten aus dem wahren Leben sehen.“ Elena Pagel arbeitet freiberuflich als Keramikerin, Fotografin und Filmemacherin und seit Januar dieses Jahres als Dolmetscherin und soziale Betreuerin in einer Unterkunft für ukrainische Flüchtlinge. „Dort sehe ich täglich das Leid, verletzte Soldaten und Zivilisten. Mein Wunsch ist, dass viele Länder der Ukraine helfen, den Krieg zu beenden und beim Wiederaufbau unterstützen.“

Inzwischen hat Elena Pagel schon sieben Kurzfilme mit Ukraine-Flüchtlingen gedreht, die sie fertig stellt im kleinen Büro in ihrer Wohnung. Ein Strauß Tulpen, bunt bemalte Keramikbecher von ihr mit heißem Tee, eine brennende Kerze und der Pokal für ihren Kurzfilm stehen auf dem Tisch. Die blau-gelbe ukrainische Flagge hängt vor dem hellen Vorhang am Fenster. Dahinter sind der belebte Albertplatz und der dunkle Turm der Dreikönigskirche zu sehen. Der taucht auch in ihrem Kurzfilm mit Hanna auf, im Schlussbild steht sie in der Abendsonne auf dem Balkon mit Blick auf einen weißen Strich, wie ein Riss zieht ein Flugzeug entlang am strahlend blauen Himmel.

Text + Fotos (lv)


Ein Preis im Handy-Format mit einem hellen, wachen Auge darauf: Elena Pagel wünscht sich, dass viele Menschen, auch in Russland ihre Kurzfilme und die andere Seite des Krieges in der Ukraine sehen. Im Regal steht farbenfrohe Keramik von ihr. Sie gibt auch Kurse im Stadtteilhaus Äußere Neustadt in Dresden.


Eine bemalte Plastik von Elena Pagel. Außerdem ist sie zusammen mit der Künstlerin Nazanin Zandi Herausgeberin des Buches „Stimmen“ – 47 Geschichten von Dresdner Frauen aus aller Welt in Wort und Bild. 2022 erschienen im Sandstein Verlag. Es sind noch Exemplare vorhanden und auch bei Elena Pagel zu beziehen.

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