
Ein Wunderwesen, Sonderling, Gespenst gar… Für einen Menschen lächelte er zu viel, meint sein bester Freund im, Kinderheim. Faszinierend, anrührend und spannend fragt die Aufführung „Toto oder Vielen Dank für das Leben“ von Sibylle Berg, was Menschsein ausmacht. Im Bild in der Titelrolle Josephine Tancke und als ihre Mutter Betty Freudenberg. Foto: Sebastian Hoppe
Ein bezauberndes, fesselndes Nichts
Mit viel Ironie, groteskem Witz, fantastisch surreal und zwiespältig erzählt die Inszenierung „Toto oder Vielen Dank für das Leben“ von Sibylle Berg über Identität, menschliche Eigenarten und den Umgang der Gesellschaft damit.
Als ginge es um ihr Leben, schreit eine Frau verzweifelt. Im grellen Scheinwerferlicht hockt sie auf einem Gerüst mit Gittern, das einem Kokon oder Blatt ähnelt. Sie ist nicht bereit ihr Kind auf die Welt zu lassen. Die Hebamme sagt mitleidlos, abgeklärt, verächtlich mit Männerstimme: „Was reinkommt, kommt auch wieder raus!“ Dann ist es endlich da, das Kind. Der Arzt gratuliert zur Geburt des Babys. „Es ist ein…“, der Arzt zögert. „Es ist ein Nichts!“
Wie ein Schlag trifft die Frau diese Aussage. Wie betäubt verlässt sie das Krankenhaus, schleift das seltsame Wesen hinter sich her. Das Leben meint es nicht gut mit Toto,, der Hauptfigur im Stück „Toto oder Vielen Dank für das Leben“ von Sibylle Berg nach ihrem 2012 erschienenen Roman Vielen Dank für das Leben. Die Bühnenfassung hatte unlängst Premiere im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden. Mit der Berg eigenen Bitterkomik, Spottlust, Ironie und Melancholie kam die Inszenierung unter Regie von Sophie Y. Albrecht noch um einiges grotesk zugespitzt, fantastisch surreal und zwiespältig auf die Bühne unterm Dach. Wo das Geschehen noch näher und intimer, ergreifender wirkt.
Toto weiß gar nicht, wer er eigentlich ist, Er wurde mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren, hat sowohl männliche als auch weibliche. In der Antike kannte uns verehrte man sie als Hermaphroditen und es gibt zahlreiche Darstellungen in der Kunst dazu, Landläufig nennt man sie Zwitter. Heutzutage werden sie „intergeschlechtlicher Mensch“ genannt. In seiner lateinischen Bedeutung steht Toto für das Ganze. Vollkommene, gar für Sämtliches. So nennt die Mutter das Kleine, das ihr vorkommt wie ein Ding, ein Hündchen, Toto. Dabei dachte sie und die Autorin Sibylle Berg, die aus Ostdeutschland stammt, wahrscheinlich an das bekannte Kinderbuch „Der Zauberer der Smaragdenstadt“ von Alexander Wolkow, in dem ein kleiner, treuer Hund namens Toto das Mädchen Elli begleitet auf ihrer Reise durch eine wunderreiche Zauberwelt, Im Stück geht Toto mit einem Köfferchen an ihrer Seite, das ihr folgt wie ein Hündchen, los, hinaus in die weite Welt und erlebt viele Abenteuer, Schönes und Trauriges, Argwohn, Interesse, Liebe und Enttäuschung.
Mit Strubbelhaar und Spangen, kindlich naiv. neugierig, offen und freundlich, schlaksig und androgyn in ihrer Art spielt Josephine Tancke die Titelrolle des Toto. Ein Sonderling, der anders ist als die anderen, nicht Fisch nicht Fleisch, das ist ihnen nicht geheuer, den sie unsicher und misstrauisch betrachten, auslachen und bloßstellen, ausgrenzen. Sie trägt eine weiße Unterhose über der wilden Leopardenhose, ein blaues Shirt und rosa-blau gestreifte Kniestrümpfe. Die anderen Darsteller tragen mittelalterlich wirkende Kostüme mit Halskrausen und gitterartige Reifröcke, wie gefangen in ihren Konventionen und sie spielen mehrere Rollen, in denen sie auf verschiedene Weise Toto mit Zu- oder Abneigung begegnen. Begleitet von abwechselnd grellen, kühlen und gefühlvollen Klängen.
Totos Mutter, anrührend ratlos, wütend und allein mit dem sonderbaren Kind und die strenge, hartherzige auf Einhaltung der Regeln pochende Erzieherin im Kinderheim spielt Betty Freudenberg, wobei die Erzieherin etwas zu platt die sozialistischen Parolen drischt. Weniger wäre hier mehr gewesen. Nahegeht die Szene mit ihr als einsame Prostituierte hinter dem rot erleuchteten Fenster im Bordell. Während sich Toto mit glockenklarer Stimme die Seele aus dem Leib singt mit seinen Songs allabendlich bei seiner „Freakshow! vor betrunkenen, rauflustigen Gästen in einem Lokal. Ein dankbar hingebungsvolles „Kuhplikum“ sind Toto hingegen die gemütlich Gras auf der Wiese kauenden Kühe, für die sie in einer Videoeinspielung mit Mikro auf der Mistgabel singt. Die Tiere nehmen sie wie sie ist. Ihr Wesen, das eine Laune der Natur ist. Sie singt mit warmer Stimme und kehrt dabei all den Mist weg, der ihr widerfährt. Toto will einfach leben wie jeder andere Mensch.
Ein wagemutiges, tolles Stück, bei dem Lachen und Weinen, Licht und Schatten, Staunen über all die Wunder im Leben nah beisammen sind. Konträr, vielfarbig und vieldeutig. Viel Beifall gab es dafür vom Premierenpublikum.
Text (lv)
http://www.staatsschauspiel-dresxden.de
Nächste Aufführung: 30.12., 20 Uhr, Kleines Haus-