Lützerath

Sie laufen oben
an der Abrisskante
entlang am Rand des Abgrunds
die Weißbehelmten in Schutzmontur
stehen sie vor nackter Fläche und
Abrissbaggern

schneiden den Weg zum Leben ab
die Behelmten holen Menschen aus
Baumhäusern Hängematten in der Luft
und den letzten Häusern am Weiher
Dörfer sterben Bäume fallen die Luft brennt
Steine fliegen

die Kohle befeuert alle
vor und hinter dem Abrisszaun
noch liegt sie tief in der Erde
ein riesiges Schaufelrad steht
schon bereit das sich bald
hinab ins Innere gräbt

keinen Stein mehr
auf dem anderen lässt
kein Grashalm mehr wächst
nur die Zerrissenheit

und die Kohle fällt nach oben
so lange das morsche Getriebe
im Weltgefüge noch hält
Energieriesen weiter am Rad drehen

letzte Nacht im Traum sah
ich ein Kind in der dunklen Erde liegen
mit weit aufgerissenen Augen
ich reichte ihm meine Hand
doch das Kind blieb liegen

LV
12.1.2023

Freital

Der blaue Briefkasten
mit den holden Musen
träumt still vor sich hin
neben dem Bahnhofsgebäude in Potschappel
aus robustem Naturstein gebaut sind viele Gebäude hier

am Brunnen verewigt auf dem Felsgestein
feiernde Bergleute den Becher voll Wein
der sagenhafte Musikus Rotkopf Görg spielt mit der Fidel
fröhlich auf zum Tanzyy
unterm Gestein grinsen schelmisch die Berggeister<

ein bärtiger Mann hält eine Kohleschaufel
gusseisern auch er
der Hut am Boden voll Regenwasser
und Bonbonpapier erzählt von längst
vergangenen Steinkohletagen

im Frisörsalon gegenüber das Bild an der Fassade zeigt es
greift man zu Kamm und Schere
bändigt Wellen und fönt
Haare stehen zu Berge
manchmal bis zum Plauenschen Grund
mit seinen felsigen Höhen
darüber der Himmel an dem graue Wolken
überm Blau entlang ziehen

manches lässt sich umfrisieren
Drehstühle auswechseln Haare schneiden
und färben Sachen umwandeln in der Änderungsschneiderei
Zeit mit Charakter glitzert neben Schmuck und Uhren
die Tafel verbirgt sich hinter grau getönten Scheiben
im Eckhaus gegenüber lockt Steini`s Sachsenküche

ein Bergmann gemeißelt in Stein lässt hoch
über dem Hauseingang eines altehrwürdigen Gebäudes
mit Pension Gäste aus und ein
verblasst der Glanz am Gasthof zum Goldenen Löwen
keiner zu sehen hinter den Wolken-Vorhängen
und dem geschwungenen Anbau der Akropolis

dahinter erheben sich Felsen
Wegweiser zum Edelstahlwerk und
der Porzellanmanufaktur
ein Mann fragt nach der Richard Wagner Straße
eine weiße Holzmöwe träumt vom Traumurlaub am Meer
im Schlachthaus kann man sich Tattoos und Piercings
stechen lassen

nebenan orientalisch speisen
und im Kulturcafé rund um den Erdball reisen
der auf den Plakaten leicht beschwingt
obendrauf in einer Kaffeetasse schwimmt

LV
18.1.2023

Wirbelndes Weiß

Hinter dunklem Baumgeäst
flockt frohlockt wirbelndes Weiß
rieselt und fällt nicht leis
im taumelnden Reigen mit tausend Sonnenfunken
auf und nieder tauchend über dem Fluss

lichttrunken mit den Flügeln schlagend
und laut kreischend –
die weiß Gefiederten sind zurück
strahlend an hellen wie grauen Tagen
hissen sie die Flagge des verschollenen Winters

sonnenbaden und jagen nach Futter
mit den anderen Wasservögeln am steinigen Ufer
des alten Hafens wo die Wildgänse einem wild
schnatternd schon fast aus der Hand fressen
und sich von gurrenden Tauben besänftigen lassen

sie umrunden himmelblau leuchtende
spitze Scherben doch in die hungrigen Schnäbel
gelangt auch Unverdauliches Plast und Metallreste
die Wildgänse lassen es sich nicht entreißen
ahnungslos fressen die Abfälle sie auf

mittendrin steht ein alter Mann mit Schal um den Kopf
gewickelt gegen den Wind
und einem Karren und füttert die Tauben und Wildgänse
schüttelt die Tüten aus
ein Schwarm Möwen fliegt auf
und kommt wieder

die Vögel putzen ihr Gefieder
im Gestrüpp hängen weiße und gesprenkelte Federn
voll winziger Regenperlen als Belohnung

als habe der Winter sich besonnen
liegt am nächsten Tag Schnee
wenig später schmelzen
kleine weiße Inseln am Straßenrand

LV
17.1.2023

Traumweiss

Ein weißer Zauber legte
sich still auf die Erde nieder
wie Traumwandler schwebten die Flocken
über Nacht verloren schon wieder

die Mund und Wange kitzeln und streicheln
alles weich zeichnen alle Risse kitten
sanft knirschen unter den Füßen beim Gehen
wie Sterne über Dunkles glitten

die Schattenrisse der Bäume und
die graue Wolkendecke tauchen
traumverloren wieder auf
aus dem schwerelosen Weiß

LV
22.1.2023

Schutzhaut

Goldenes Licht fiel
durchs Fenster
entglitt mir

deine und meine Schutzhaut
hielt mich auf
wann sie ablegen
wann schützt
trennt sie
ummauere mich
mit Worten

am Fluss taue
ich auf
am Himmel rote Schwingen
spiegeln sich darin
mit dem Geschwirr der Enten
und Wildgänse
eine Möwe thront auf einem Stein

die Luft schneidet
eisig ins Gesicht
am steinigen Ufer die feine
schneeweiße Trennlinie
hindert die Wasservögel nicht
hin und her ziehen sie ihre Kreise

auf ihre Weise
stehen andächtig vor dem tiefblau und
rot angehauchten Fluss
zwei Enteriche schlagen wild im Wasser
mit ihren Flügeln aufeinander ein

ich lache laut
bei ihrem Kampf
der einem Tanz ähnelt

in dem sie auf und ab tauchen
das Wasser spritzt und trägt
sie wie eine Schutzhaut

LV
6.2.2023

Friedenslied
(Zum 13. Februar)

Ich stehe auf
halte nicht mehr still
sage was ich sagen
will
schon immer
lebt der Mensch
nicht nur vom Brot allein

wieviele Träume
Menschen sollen noch
sterben
bis ihr merkt
dass immer mehr Waffen
keinen Frieden schaffen

die Erde bebt
aus Liebe zum Leben
hört die Stimmen der Verschütteten
und der Toten
lasst sie Euer Kompass sein

LV
12.2.2023

Texte + Fotos: Lilli Vostry

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