„Selbstbildnis mit Stab“: Ein Harlekin, Träumer, Idealist und nachdenklicher Zeitbeobachter. Der junge Maler begegnet dem reifen Künstler Markus Retzlaff in einer Ausstellung mit seinem Frühwerk in der Stadtgalerie Radebeul.
Die blauen Blumen der Romantik: das Gesellenstück von Retzlaff in der Porzellanmanufaktur Meißen.
Bilder zwischen Träumerei und Tristesse
Eine spannende Wiederbegegnung und zugleich Neuentdeckung für die Besucher ist die Ausstellung „Das Frühwerk“ mit Malerei von Markus Retzlaff
zu seinem 60. Geburtstag in der Stadtgalerie Radebeul.
Ein Porträt gleich neben dem Eingag zeigt den jungen Maler in dunklem Arbeitskittel vor lichtem Hintergrund an der Staffelei, mit forschendem Blick, Pinsel und Farbpalette. Im „Selbstbildnis mit Stab“ sitzt er in rotem Mantel, den
Harlekinshut und eine Flasche Wein neben sich, in einer Zimmerecke auf einem viel zu kleinen Schemel, mit Zigarette und langen, schlaksigen wie verknoteten Beinen. „Wie ein Dejavu mit sich selbst“, sagt Markus Retzlaff über diese Wiederbegegnung mit seinen frühen Arbeiten und seinem früheren Ich. Zu sehen sind sie in der Ausstellung „Das Frühwerk“ – Malerei von 1984 bis 1991 anlässlich des 60. Geburtstages des Künstlers derzeit in der Stadtgalerie Radebeul in Altkötzschenbroda 21.
Viele der Bilder haben ihn überrascht, so Retzlaff, die er nach Jahrzehnten
wiedergesehen hat. „Das bewegt natürlich viel in mir selbst.“ Er hat wieder mit Malerei angefangen. Die 1980er Jahre waren eine besondere Zeit. „Diese Zeit hat mich sehr geprägt, die Jahre in Meißen waren das Prägnanteste“, sagt er rückblickend. Mit zehn, elf Jahren begann er zu malen. Die Eltern empfahlen ihm die Porzellanmalerlehre. Doch er wollte nicht sein Leben lang Blumen malen und hörte gleich nach der Lehre 1983 auf, um Maler zu werden. In Meißen gab es eine Künstlerszene im Umfeld der Porzellanmanufaktur. Wolfgang Hänsch war sein Mentor und auch Lothar Sell. Markus Retzlaff arbeitete als freier Künstler und in verschiedenen Jobs, darunter als Tellerwäscher und Friedhofsgärtner. Er war Teil einer Gruppe von Künstlerfreunden, die dichteten, musizierten, zusammen vor der Natur malten, Mappen druckten an einer Druckerpresse, deren Walzen aus Dampflokomotiven stammten und Partys feierten. Das Zentrum der Freundesgruppe war seine „Atelierbude“ am Lerchaweg neben dem Friedhof in Meißen. Künstler von Schiele, Dix bis Rosenhauer und die Franzosen der klassischen Moderne waren ihre Vorbilder.
Ein Schlüsselbild und beeindruckendes Zeitporträt in der Ausstellung in Radebeul ist „Die Fastnacht“, 1985/86 entstanden nach einer der legendären Faschingsfeiern an der Dresdner Kunsthochschule, wo Retzlaff sein Studium gleich im dritten Studienjahr begann und 1994 mit dem Diplom abschloss. Das Bild wirkt traumhaft-surreal und konkret zugleich. Es zeigt eine Frau im kurzen roten Kleid und einer Kugel in der Hand, um sie ranken sich vier Figuren, alles Selbstbildnisse des Künstlers. Der Rebell, der Trommler, der Harlekin und hinter halb zugezogenem Vorhang umarmt ein weißer Clown mit spitzem Hut eine Frau. Das Bild erscheint ihm wie ein Traum aus ferner Zeit, sagt Retzlaff, und war doch wahr. Ein Spiel mit Fantasie, Abgrenzung, Individualität und den eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden. Er hat dieses Bild damals für einen Kasten Vollbier an einen Freund abgegeben und dann war es Jahrzehnte weg. Vor fünf Jahren erfuhr Retzlaff, dass dieses Bild bei dessen Eltern in Meißen hängt seit 30 Jahren. Eigentlich gehört dieses besondere Zeitbild in eine öffentliche Kunstsammlung.
„Vieles ist abgetaucht, verschollen und vielleicht ist das beste Drittel hier zu sehen“, so Markus Retzlaff. „Die dunklen Bilder wollte ja keiner.“ Er selbst wollte nie in den Westen ausreisen. „Ich liebte die Dresdner Malerei zu sehr“, sagt er. „Die Kunst war frei. Man wurde doch nicht wegen einem Bild festgenommen.“ Mit Blick auf sich selbst sagt er: „Der andere, der man war, der junge Markus schockt mich. Die Radikalität, mit der er lebte“, so Retzlaff. „Heute ist eine ganz andere Zeit. Das hat der Harry Lübke schon gesagt, der Galerist: ‚Mit dem Westen kam das Geld.` Es geht nur noch um Geld.“ Damals bekam er 25 bis 30 Ostmark für ein Bild. Davon konnte er S-Bahn fahren, Karo-Zigaretten, einen Kasten Bier und Leberwurstbrötchen kaufen, so Retzlaff. Einige seiner frühen Arbeiten hat er aus Privatsammlungen zurückgekauft. In der Stadtgalerie Radebeul hängen Werke von 16 Leihgebern. „Ich bin sehr glücklich über diese Zusammenstellung und Hängung und den Leihgebern dankbar. Die Ausstellung hat einen unheimlichen Klang aus jener Zeit, viel optimistischer als gedacht“, sagt Markus Retzlaff.
Zu sehen sind eine Porzellanvase mit den blauen Blumen der Romantik, sein Gesellenstück, ein paar frühe, figürliche Radierungen mit Punks und Kneipenszenen, Porträts von Freunden, Bekannten und Familie, Selbstbildnisse, Träume, Tristesse, Endzeitstimmung, alte Städte, eine Brücke am Kanal und die lustig im Freien flatternde Wäsche der Frau Raschke, seine Hausnachbarin in Meißen. Jedes Bild erzählt eine Geschichte. Von dem bärtigen Mann vorm Kachelofen, der seinen Dienst bei der Armee verweigerte und als „Der Amnestierte“, hager und desillusioniert sein Blick, wieder auftaucht. Der Malerfreund Mike mit ähnlich wach-träumendem Blick aus dem Norden. In dem Bild seiner ersten Frau Ines mit Karodecke „steckt bisschen Picasso mit drin.“ Sehr schön auch das Porträt von ihr wenige Tage vor der Geburt seines ersten Sohnes.
Das späteste Bild der Ausstellung stammt von 1991 mit dem Titel „Tunnel“ und wirkt erstaunlich zeitlos. Menschen sitzen einzeln, einsam und abwartend an den Tischen einer Kellerkneipe im ehemaligen „Hamburger Hof“ in Meißen, durch das Fenster fällt spärlich Licht auf die Tische. Es sind Bilder aus einer anderen Zeit, die auch heute noch viel Lebendigkeit, atmosphärische Dichte, starke Kontraste und Farbkraft ausstrahlen, faszinieren, bedrücken und berühren mit dem klaren, tiefen, genauen und unbestechlichen Blick des Malers und Grafikers Markus Retzlaff. Sein früheres und heutiges Ich haben sich sicher noch viel zu erzählen. „Da Markus Retzlaff ja mehr als Grafiker bekannt ist, haben wir uns entschieden, frühe Arbeiten von ihm bis zum Beginn des Studiums zu zeigen. Diese besitzen eine große, ungeheure Kraft und hohe Qualität und waren bisher kaum zu sehen“, sagt Stadtgalerist Alexander Lange. Zur Ausstellung wird auch ein Katalog zum Frühwerk von Markus Retzlaff erscheinen.
Ein Künstlergespräch zu seinen Arbeiten findet am 16. April, 15 Uhr statt und ein Rundgang mit Markus Retzlaff zum Abschluss der Ausstellung am 14. Mai, 16 Uhr.
Text + Fotos (lv)
Geöffnet hat die Stadtgalerie Radebeul:
Die, Mi,, Do von 14 – 18 Uhr und So von 13 bis 17 Uhr
Beeindruckendes Zeitbild: „Die Fastnacht“, das Schlüsselbild in der Ausstellung von Markus Retzlaff.