Eine große Rhapsodie auf Maschinen und Menschen der Neuzeit
Am 22. Oktober 2019, 19 Uhr veranstaltet die Literarische Arena e. V. gemeinsam mit der Evangelischen Akademie Meißen und den Städtischen Museen Dresden eine Lesung mit dem Berliner Autor Tom Schulz. Titel: „Reisewarnung für Länder Meere Eisberge“
Je mehr man von Tom Schulz’ bizarren und allzu treffenden Paraphrasen auf die Jetztzeit liest, desto mehr stellt sich ein Gefühl ein, der Wahrheit auf der Spur zu sein, und im Gegenlicht, sozusagen als Sekundärprodukt, so etwas wie Poesie. „Reisewarnung für Länder Meere Eisberge“ heißt der Band, den der Berliner Dichter am Dienstag [22. Oktober 2019] im Dresdner Stadtmuseum vorstellt. Es ist selten, dass ein Gedichtband schon im Titel eine Warnung enthält, zumal Eisberge nur als Vorstellung auftauchen. Aber man weiß ja spätestens seit der Titanic, dass der größte Teil von ihnen nicht zu sehen ist.
Um es gleich vorweg zu sagen: Es geht hier nicht ums Reisen. „Die Maschinen sind volljährig, wenn sie mit dem Träumen / aufgehört haben“, beginnt eines der vielen weitausholenden Gedichte im Kapitel „Schwarze Ampeln“. „Die Maschinen sind pensionspflichtige Serienmodelle“, sie „bewegen sich in einem Leben zwischen Kontostand / Kredit und Tilgungsrate“ oder „sie stehen längs geparkt auf dem Mittelstreifen“. Es sind Tatsachenbehauptungen aus einer großen Rhapsodie aufs Zeitalter jener Maschinen, zu denen im neuzeitlichen Verständnis auch die Menschen gehören. „Tom, bitte empören sie sich mit uns“, empfiehlt der Messengerdienst. „Ich empöre mich, der Himmel ist blau, nicht schwarz.“
„Eine Invasion ohne Luftbrücke, 150 Millionen / gegen uns.“ „Das Auge der Feuerqualle“ gehört zu den strenger komponierten Kapiteln des Buches, wie auch das Langgedicht über Syrakus, „Ein Tag im Leben“ eines scheinbar erfolgreichen Schriftstellers, der die Gegensätze im schmunzelnd-lapidaren Ton etwa wie folgt zusammenfasst: „Ich stehe in der Hundescheiße von Sizilien. / Ich weiß, dass Artemis die Quelle hierher brachte.“
Orte am Meer bevölkern fast das ganze Buch. Es sind Sehnsuchtsorte wie die „Beinhäuser von São João“ in Porto: „Ich liebe die Stadt am Fluss, die Stadt am Meer“ – fast scheint es, als wolle die Stimme, die da spricht, Beklommenheit vertreiben. „Es gibt Tote, die ganz und gar unsichtbar erscheinen.“ Das gilt auch für die beiden Venedig-Kapitel, denen man ein wenig den freien Autor in einer seiner Residenzen anmerkt, wo „Adriatisches Licht“ oder der Konjunktiv den schwankenden Untergrund befestigen sollen: „Wäre ich Lord Byron, würde ich vom Anblick der Blumen leben können“. Auf der griechischen Insel Leros gibt es nicht nur eine Begegnung mit Ahmed aus dem „Asylbewerberheim“, sondern auch mit Jannis Ritsos, der dort viele Jahre seiner Gefangenschaft absaß. „Wir laufen durch die Morgensonne. Wir hören das Gedicht.“ Das Parlando der Texte bekommt hier plötzlich eine gewisse Eindringlichkeit. „Das Gedicht sagt, es glaube an Liebe und Tod.“
Es ist ganz offensichtlich, dass Tom Schulz nicht um des Reisens willen den Mittelmeerraum, die Kanarischen Inseln und Lateinamerika bereist. Die „Reisewarnung“ ist eine Art von dichter Beschreibung, die den Dichter-Ethnologen zu sich selbst führt: „Ich bin ein Passagier / ich reise kreuz und quer.“ Das wird vielleicht am eindrücklichsten an den Orten, die der eigenen Oberlausitzer Herkunft am nächsten liegen. „Alles ist schiefgegangen“, beginnt der „Ausflug ins Elbsandsteingebirge“, das kann auch am Schluss kein „Unsere Heimat“-Pastiche wieder geradesingen: „Ende, Lied aus.“
Text: Patrick Wilden
Tom Schulz: Reisewarnung für Länder Meere Eisberge. Gedichte, Hanser Berlin 2019. 128 Seiten, 19 Euro, ISBN 978-3-446-26201-0.
VERANSTALTUNG am Donnerstag, 22. Oktober 2019, 19:30 Uhr im Stadtmuseum Dresden, Wilsdruffer Straße 2 (Eingang Landhausstraße), 01097 Dresden. Haltestelle: Pirnaischer Platz.
Eine Kooperation der Literarischen Arena e.V. mit der Evangelischen Akademie Meißen und den Museen der Stadt Dresden.
Axel Helbig
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