Zwischen Überlebenskampf, Zerstörung und Siegesrausch: Acht junge Schauspielerinnen und Schauspieler agieren mit intensivem Sprech- und Körpertheater mit Bravour in der Aufführung der „Wolokolamsker Chausee“ von Heiner Müller im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden. Foto: Sebastian Hoppe
Heroisch-groteske Schlacht mit goldenem Panzer
Hart, brutal ehrlich, erschütternd und erschreckend aktuell in der Auseinandersetzung mit Krieg, Gewalt und der Konfrontation verschiedener politischer Systeme kam Heiner Müllers Text-Zyklus „Wolokolamsker Chausee I – V“, ein Nachruf auf die Sowjetunion und DDR, erstmals seit längerem auf eine ostdeutsche Bühne. Die Premiere war am vergangenen Donnerstagabend im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden. Die nächste Aufführung ist am 16.2., 19.30 Uhr.
„Wie räumt man ein Minenfeld?“, steht in grellgelber Schrift auf dem schwarzen Bühnenvorhang. Die Antwort kommt zum Schluss der Aufführung. Ein riesiger gelber Stiefel über der käfigartigen Spielfläche dient als Fingerzeig in der Inszenierung der „Wolokolamsker Chausee I – V“ von Heiner Müller, der als bedeutendster und radikalster Autor des deutschsprachigen Theaters seit Brecht gilt. Die Premiere mit Studierenden des Schauspielstudios der Hochschule für Musik und Theater Leipzig am Staatsschauspiel Dresden in einer Koproduktion mit dem Goethe-Institut Moskau war am Donnerstagabend im Kleinen Haus.
Ursprünglich sollte eine gemeinsame, zweisprachige Aufführung mit Schauspielern aus beiden Ländern entstehen und in Moskau und Dresden gespielt werden. Mit dem Beginn des Angriffskrieges russischer Truppen gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 ist diese Koproduktion jedoch unmöglich geworden. Damit ist Müllers Textzyklus, der von 1984 bis 1987 entstand und 1988 in Paris und in München erstmals komplett uraufgeführt wurde, wieder erschreckend aktuell in seiner Auseinandersetzung mit Krieg, Gewalt und der Konfrontation verschiedener politischer Systeme. Müller selbst nannte sein letztes dramatisches Werk einen „Nachruf auf die Sowjetunion, auf die DDR.“
Viele Stücke des 1929 im sächsischen Eppendorf geborenen und 1995 in Berlin verstorbenen Dichters und Dramatikers konnten damals nur im westlichen Ausland gespielt werden. Genau zum richtigen Zeitpunkt, spannungsgeladen, erschütternd wie ergreifend, erzählerisch und atmosphärisch voll starker, zündstoffreicher Bilder und Szenen und mit intensivem Sprech- und Körpertheater der acht jungen Spielerinnen und Spieler des Schauspielstudios Dresden kam die Inszenierung nun unter Regie von Josua Rösing auf die Bühne. Hart, brutal ehrlich, heftig und prägnant bis absurd-grotesk bewegt sich dabei die rhythmische Sprache Heiner Müllers mit aller Wucht und Kraft zwischen Macht und Ohnmacht, Widersprüchen und Widersprechen, hinterfragt er Gesetzes- und gesetzte Ordnung im Verhältnis zwischen Staat, Masse und Individuum.
Anfangs erscheint in einer Videoaufnahme auf der Bühne die Müller-Übersetzerin ins Russische, Ella Vengerova, intensiv Zigarette rauchend wie er, und sagt: Jede Generation hat ihre eigene Geschichte, einen anderen Blick auf das Vergangene und jeder Mensch sieht sie verschieden. Da hilft nur Zuhören und Fragen, um das Geschehene zu verstehen. Die „Wolokolamsker Chausee“ ist eine der großen Ausfallstraßen aus Moskau in Richtung Westen. Von den verzweifelten Kämpfen eines Bataillons dort gegen deutsche Wehrmachtstruppen erzählt der erste Teil der Aufführung. Gespielt wird hinter, vor und auf einem goldfarbenem Baugerüst mit weißen Tüchern, grün angestrahlt wie Wald. Die Darsteller tragen goldene Uniformen, stehen halb gebückt wie in Deckung und sprechen im Chor von ihrer Angst vor dem Feind, dem Sterben und erbarmungslosen Überlebenskämpfen. Abweichler werden als Feiglinge und Verräter angeprangert und erschossen.
Im Wechsel von Schauspiel und Videoprojektionen marschieren, trimmen, überbieten sich die Kämpfer der neuen Zeit in heroischen Posen und Parolen für Heimat und Vaterland und den Aufbau eines neuen Deutschland und bejubeln einen goldenen Panzer als Rettung. Herrlich grotesk die Szenen über die „Hochzeit von Funktion und Funktionär“. Wie sie mit ihren Schreibtischen verwachsen im Sitzfleisch. Brav im Gleichschritt unter einer Offiziersmütze umherlaufen oder an Seilgurten in der Luft strampeln und zu dem gigantischen Stiefel empor klettern. Und immer wieder die Worte „Vergessen und Vergessen und Vergessen“, die wie eine Beschwörungsformel im letzten Teil ertönen. Dagegen geht die Aufführung eindringlich, beeindruckend und berührend an Menschlichkeit und Mitverantwortung aller erinnernd an. Viel Beifall vom Publikum.
Text (lv)