Großes Osttheater mit viel Humor und Tiefsinn

Von den Folgen der deutschen Wiedervereinigung und ihren ungeliebt ungehorsamen Kindern erzählt witzig-ironisch, nachdenklich und packend mit viel Gesprächsstoff die Inszenierung „Wir sind auch nur ein Volk“ nach den gleichnamigen Drehbüchern von Jurek Becker, die am Sonnabend im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden Premiere hatte.

Ein Drehbuchautor, der sich im Osten Deutschlands so fremd fühlt wie in der Mongolei, platzt mitten hinein in den Alltag der Ostberliner Familie Grimm. Dabei fallen nach und nach alle Vorurteile, Hemmungen, Mauern im Kopf bis man buchstäblich nackt voreinander steht. Das Stück „Wir sind auch nur ein Volk“ nach den gleichnamigen Drehbüchern von Jurek Becker aus dem Jahr 1994 in einer Fassung von Kerstin Behrens und Tom Kühnel bringt unverblümt, mit viel Humor, Leichtigkeit und Tiefgang ernste, hochaktuelle Themen im Umgang mit deutscher Geschichte und Gegenwart gleich zur Spielzeiteröffnung auf die Bühne. Die Premiere war am Sonnabend im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden.

Zur Einstimmung flimmern Fernsehbilder einer Unterhaltungssendung mit Schlagerstars der DDR und Fernsehballett, die sich flott-schmissig verabschieden in den letzten Sendeminuten des DFF, über die Bühne. Sie werden abgelöst von den „Kindern der deutschen Einheit“. Einer Gruppe knuffig-rührender Figuren* mit Pudelmützen, die mit verzerrter Stimme wie Erwachsene reden, im Nebel umher irren und sich eine Fernsehserie über eine typische ostdeutsche Familie und ihre Sorgen wünschen, um „die Zerrbilder in Ost und West zu normalisieren“. (*wie ich hinterher erfuhr, handelt es sich hierbei um die Mainzelmännchen vom ZDF, was ich als nicht Fernsehzuschauerin nicht wusste…) Ihre eigene Symbolik im Stück haben sie dennoch.

Der angesagte, smarte und ehrgeizige Autor Anton Steinheim (Thomas Eisen) wird für das Drehbuch beauftragt, obwohl er vom Osten keine Ahnung hat. Er und seine Frau Lucie (Betty Freudenberg) reden mal von oben herab wie Entertainer mit Mikro vor dem Glitzervorhang. Dann wieder nimmt er die Familie Grimm haarscharf wie Insekten unter die Lupe, beobachtet und befragt sie. Die Inszenierung unter Regie von Tom Kühnel springt dabei turbulent und ironisch zwischen Fernseh-Glitzerfassade, Reality-TV und echtem Leben hin und her, begleitet von Videoaufnahmen mit Live-Kamera (Bert Zander) aus dem Wohnzimmer der Familie Grimm im Gespräch mit dem Drehbuchautor. Der TV-Produzent ermahnt den arbeitslosen Familienvater Benno Grimm (herrlich trockenhumorig-bodenständig: Holger Hübner), der im Scheinwerferlicht wie bei einem Verhör sitzt: „Bieten Sie ihm großes Osttheater!“ Davon gibt es reichlich im Stück. Mal geraten Benno und seine Frau Trude, eine forsche Lehrerin (Nadja Stübiger) heftig aneinander im Streit ums Geld und eine taktlose TV-Moderatorin, mal Vater und der schon etwas senile Schwiegervater Karl Blauhorn (Thomas Neumann) im ausgedienten ASV-Trainingsanzug, mal Vater und Sohn Theo (Philipp Grimm), der sein Philosophiestudium abbrach und nur herummotzt.

Doch so richtig Frust abgelassen wird beim Besuch des einst in den Westen abgehauenen, überheblichen Bruders von Trude (Moritz Dürr) und seiner naserümpfenden Freundin (Betty Freudenberg). In schnellem Rollen- und Perückenwechsel von acht großartigen Schauspielern kommen ernste, nachdenkliche, traurig wehmütige, wütende und komisch-dramatische Szenen, Bilder und O-Töne aus der DDR- und Wendezeit und einige unbequeme Wahrheiten auf die Bühne. Sie spielen Familienmitglieder, Geschäftsleute auf Beutezug im Osten, Fabrikarbeiter und protestierende Bürger mit machtvollen „Wir sind das Volk!“-Rufen. Begleitet von Osthits wie „Wenn ein Mensch“ von den Puhdys, „Über sieben Brücken“ von Karat, „Am Fenster“ von City, von Liedermacher Hermann van Veen bis Deutschrock von Grönemeyer. Ein grotesker Höhepunkt der Aufführung ist die Parodie mit dem täuschend echten „Stasi-Schauspieler“ (Moritz Dürr) in düsteren schwarzweiß-Bildern. Und das zornige Streitgespräch zwischen zwei Frauen aus dem Osten und Westen, einer breit sächselnden, die nicht klein beigibt und die andere in eitler Siegerpose, in ihre Nationalflaggen gehüllt mit Zitaten aus Schillers “Maria Stuart“. Viele Bravos gab es am Ende für diese Aufführung, die Ost- und West-Eigenarten sehr genau und pointiert betrachtet, direkt ins Herz trifft und nahe legt, sich gegenseitig mehr zuzuhören.

Text (lv)

Fotos zur Aufführung folgen noch.

http://www.staatsschauspiel-dresden.de