Steinwüste

VIII – Fortsetzung des Gedicht-Zyklus „Am Fluss“ *

Von allen verlassen überdauerten
sie noch das alte Jahr
nun reißt ein gefräßiger Greifarm
die letzten Reste
der alten Speicherhallen am Hafen
aus dunklen Dämmerträumen
erbarmt sich ihrer die seit hundert Jahren
dort standen nicht einfallen wollten

die ihnen neues Leben einverleiben wollten
standen allein
letzten Sommer flatterten noch grünweiße Jalousien
vor einem der Fenster nebenan am City Beach
wurde nächtelang gefeiert
nun starren Fensterrahmen ins Leere
in den Dachnischen der Hallen brüten keine Vögel mehr
der Greifarm gräbt tief ins Innere
zurück bleibt eine Steinwüste
bizarr aufgerichtete Innereien
der Geruch von Holzgebälk Staub und Ziegelsteinen

mittendrin ein mächtiger alter Baum
mit schwarzem Geäst sieht alles mit an
wird er bleiben im Baugewirr graublaue Wasserlachen
ausgerissene Grünsprösslinge winden sich aus Schuttbergen
empor dazwischen ein Stück himmelblauer Zaunsrest
der Bücherscheune hebe es auf mit ein paar Steinen

eine weiß blättrige Gestalt Göttin des Zerfalls
oder Zufalls des nie ganz vertreibbaren Schönen
erhebt sich von einem gelben Steinsrest der früheren Speicher
aus den Trümmern schauen zwei metallene Wächter
wiegen ihre rostigen Baggerschaufelköpfe

L.V.
16.1.2019



Fundstücke

Texte + Fotos (lv)

Am Fluss

I
Blaue Inseln
kreiseln im Wolkenmeer
auf und ab tauchende Schwalben

über allen Wassern
führt mein Weg
zu Dir

der Fluss verschiebt
die Grenzen
hinter den Sandsackwällen

findet alles
Zeit

L.V.
4.6.2013

Überfließen

II
Der Fluss steigt
an Land
fließt über
vor Glück

breitet sein nasses Kleid
auf der Wiese zum Trocknen
mitten im Entengeschnatter
aufgeschreckter Menschen

schaukeln Stämme mit Raben
im Wasser
auf den Bänken im Fluss
sitzt keiner

Laternen und Verkehrsschilder
nur noch Zier
bis der Fluss ermattet
zurückkehrt in sein
Bett

L.V.
4.6.2013

Nach dem Regen

III
Los lassen
wir hinter uns

den grauen Glanz
der Regentage

zurückgeworfen
ins Licht

federleichte Laken
am Himmel

verwehen im
nächsten Moment

Lassen wir uns nicht mehr
zurück im rinnenden
Rauschen

L.V.
5.6.2013

Begegnung

IV
Wir stehen am Fluss
versperrt der Weg
am Ufer

Sehen uns an
kein Blick ertrinkt
im andern
segeln umeinander

Jeder auf seiner Insel
gehst du weiter
fließen wir uns
entgegen

L.V.
5.6.2013

Gebändigt

V
Unter mir
der tosende Strom
aufgewühlt
unterm Brückenbogen

aufgebrochen
zu anderen Ufern
bricht sich Bahn
in der Erinnerung

gebändigt
besänftigt
im Nachhall
verebbter Glut

L.V.
9.6.2013

Flussmelodie

VI
Mit dem uferlichten Tag
fängt der Flug der Schwalben

mein Sehnen nicht auf

flüstert der Fluss
sein Lied
trocknet ein Klavier
tonlos am Straßenrand

L.V.
17.6.2013

Wolkenmeer

VII
Auf blau strahlendem Parkett
drehen sich die Wolkentänzer
schließen Wetten ab
mit dem Fluss

wie nah sie noch
heranrücken können
mit vollen Segeln
im Baurausch

Goldgräber am noch schlamm
verklebten Ufer hängen
Lamettagrasbüschel
Mülltütenfetzen in den Bäumen
am Wasser ein verlorener Regenschirm

ein staubiges Sofa mit
Blick auf den glänzenden Wasserspiegel
sonst alles wie immer
in der Abenddämmerung versinkt
die goldene Kugel im Strom

L.V.
18.6.2013

* Die Texte I – VII entstanden während des zweiten großen Hochwassers an der Elbe in Dresden 2013, das erste war 2002 und ich wurde aus meiner damaligen Wohnung in der Leipziger Straße ca. 14 Tage evakuiert.
Text VII entstand am 16.1.2019, abends, nach dem Abriss der letzten Speicherhalle in Elbnähe, an der Leipziger Straße. An Stelle der alten Hallen wird das Großbauprojekt Hafencity (Investor USD – Unser Schönes Dresden) mit mehrstöckigen Wohn- und Geschäftshäusern vorbereitet. Die ersten Neubauten stehen schon. Fragen des Hochwasserschutzes im Überschwemmungsgebiet der Elbe sind bis heute nicht ausreichend geklärt. (lv)

Vor dem Abriss: die Speicherhalle vom Puro Beach am Elberadweg in Dresden-Pieschen. Vorn die Baustelle mit dem ersten Gebäude der Hafencity. Die Aufnahmen entstanden im Juli 2018.

Holunder und Brombeerhecke ranken an der alten Steinmauer der Speicherhalle. Werden sie diesen Sommer noch erleben?
Die Speicherhallen mit Blick zur Elbseite vor dem Abriss. Und das ehemalige Gebäudeensemble an der Leipziger Straße.

 

 

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