Eigenes und Fremdes: Vier einstige Schulfreunde stellen fest, wie sehr sie sich mit
ihren Idealen und Ansichten voneinander entfernt haben. Foto: Sebastian Hoppe

Im Kreislauf der Geschichte

Von alten und neuen Vorurteilen, Ängsten, Unsicherheiten und dem Überwinden der Sprachlosigkeit erzählt spannend, grotesk-komisch und schmerzlich nahegehend das Stück „Stummes Land“ von Thomas Freyer in der Regie von Tilmann Köhler. Heute, 12.10. und 13.10., 19.30 Uhr wieder im Kleinen Haus in Dresden zu sehen.

Im Dunklen stehen sie, zwei Männer und zwei Frauen kämpferisch mit Hockern in der Hand, auf der Bühne. Das Publikum sitzt ringsherum um die SchauspielerInnen und den sie an der Gitarre begleitenden Musiker Matthias Krieg. Das Licht geht an, vier Menschen treffen sich in der ostdeutschen Kleinstadt  wieder, in der sie zur Schule gegangen sind. Sie begrüßen sich freundlich, fragen sich was sie so machen und trinken aus Wasserflaschen „Wein“. Etwas argwöhnisch fragt Daniel, der durch die Welt jettende Managertyp (Benjamin Pauquet) ob das Lamm ist, das Esther (nach außen strahlend erfolgreich: Fanny Staffa) zubereitet hat. Er nennt Soska (Oliver Simon) einen Griesgram und ein Teil von ihm sei immer kampfbereit. Und Laura (Karina Plachetka) wird den schusseligen Fleck von Kindertomatensoße auf ihrer Bluse nicht los und wünscht sich in ihrem blaugemusterten Kleid, einmal unbekleckert das Haus zu verlassen. Anfangs können sie noch über ihre Marotten und Eigenarten lachen, doch bald wird der Ton ernster, härter, skeptischer und lauernder als auf einmal ein Rassismus-Vorwurf im Raum steht.

Alle fühlen sich angegriffen und widersprechen, verteidigen sich bis sie es nicht mehr aushalten und sich Luft machen. Ein ebenso packender wie emotionsreicher, grotesk-komisch inszenierter Kreislauf zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist die Inszenierung „Stummes Land“ von Thomas Freyer in der Regie von Tilmann Köhler. Die Premiere war am 25. September vor einem Jahr im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden.

Die vier einstigen Schulfreunde sitzen nicht nur mit Abstand am Tisch, sie haben sich auch im Leben und in ihren Ansichten voneinander entfernt. Laura stellt fest, wie sehr  sich die Heimat verändert hat. Vielleicht etwas zu schnell, meint Esther. Sie fühlt sich wohl hier, hingegen stören sie „übermalte Wände und Geschichte“. Soska erzählt von einem jungen Türken, den er mit seinem Besuch fest im Blick hatte, ihn beobachtete und belauschte hinter der Tür. Die Angst hocke hinten im Kopf, erklärt Soska. Und fragt die anderen, ob sie den Mut hätten, sich so zu zeigen wie sie sind?!

„Die Worte hallen noch in den Räumen zwischen den Gedanken“, das beunruhigt Soska. Erschrecken über diese Gedanken, über Eigenes und Fremdes, Vorurteile und Ängste, die sie auslösen. Denken wie die Väter. „Wo, wenn nicht hier, können wir uns diese Grässlichkeiten von der Seele reden!“, fordert er die anderen zu Ehrlichkeit zu sich selbst heraus. Einer nach dem anderen erzählen sie ihre Geschichte über versteckten, ungewollten oder unverhohlenen Alltagsrassismus. Doch wann beginnt er, wann sind die Vorwürfe berechtigt oder übertrieben, eingebildet?

Berührend und bedrückend zugleich die Schilderung von Laura, die einen Blick für Diskriminierung und Ungerechtigkeiten habe wie sie sagt und sich in einem Verein für geflüchtete Frauen engagiert. Doch eines Tages sah sie vor ihrem Haus einen Mann, der in der Mülltonne wühlte und dachte, was will der da, in unserem Müll?! Sie schämt sich für diesen Gedanken und hält sich die Hände vors Gesicht.

Dann ein lauter Knall. Eine tote Gestalt in dunkler Metallfolie fällt von der Bühnendecke. Die vier zerren an ihr und finden ein Paket mit Inschrift: Berlin 1961, August, Mauerbau. Eine Zeitreise beginnt, zurück in die frühere DDR und davor die Zeit des Nationalsozialismus. Die vier Jugendfreunde schlüpfen in die Rolle ihrer Eltern, erzählen von den politischen Ereignissen und wie sie sich verhielten und zeigen sie mit dem Blick der Kinder. Ideal, Verklärung, Gerüchte und Wirklichkeit, das Rot der Arbeitermacht, Streit, Verrat, Bespitzelung und Gewalt prallen drastisch zugespitzt aufeinander. „Ich bin noch zu jung, ich weiß von alldem nichts!“, wird immer wieder betont. Manches konnte oder will man nicht wissen. Bis hinein in die Gegenwart. Schwelt das Unausgesprochene, Empfundene, Erlebte und Beklagte weiter. Doch die Spannungen sind spürbar. Die Stimmen der Toten und Lebendigen vereinen sich und verhallen.

Immer lauter, offener und hasserfüllter reden die einstigen Jugendfreunde bis zu offener Gewalt mit umgestürztem Tisch und Stühlen.

„Da braut sich was zusammen. Da kommt was auf uns zu. Die Toten fliegen hoch. Sie trinken aus dem Himmel jetzt…“, bricht die Angst offen aus ihnen heraus. Sie fühlen sich verdrängt. „Von den Rändern zieht die Fäulnis längst zu uns…“ Die Darsteller gehen im Kreis und rufen den Zuschauern ihre beunruhigenden, düsteren Befürchtungen zu als wären es Tatsachen. Und man möchte sich am liebsten wegdrehen, aufstehen und weglaufen. Weg aus dieser dunklen Schwarzmalerrunde.
Doch wohin steuert die Entwicklung?, die spannende Frage bleibt offen. Das dürfen die Zuschauer für sich weiterdenken.

Die vier Unruhegeister mit weiß geschminkten Gesichtern schweben zum Schluss davon in einem Metallkäfig. „Und morgen früh ist alles weg… Es ist alles nur ein Spiel, es sind nur Gedanken. Wir reden hier nur ins Dunkle“, sagen die vier SchauspielerInnen zum Schluss. Schminke, Kostüme. Alles nur ein Job. Sie betonen es wie um sich vom Gesagten zu distanzieren. Doch wie weiß man, wie es in einem Menschen aussieht, wo die Ironie aufhört und der Ernst beginnt?! Viel Beifall gab es vom Premierenpublikum für einen Theaterabend mit viel Stoff zum Nachdenken, bitterkomisch und mit den Klischees spielend, herausfordernd, um hinter die Fassade zu schauen. Geschichte und Wirklichkeit und ihre Zusammenhänge differenziert zu betrachten und die Sprachlosigkeit zu überwinden, wenn jemandem egal woher, Unrecht geschieht.

Text (lv)

Nächste Aufführungen: 12. und 13. Oktober, 19.30 Uhr und 31.10., 19 Uhr im Kleinen Haus

http://www.staatsschauspiel-dresden.de


Die Gespenster der Vergangenheit lassen nicht los.
Foto: Sebastian Hoppe