Nicht zu bremsende Spielleidenschaft: Ahmad Mesgarha und Anna-Katharina Muck glänzen witzig-komisch bis dramatisch und unverdrossen in der Inszenierung „Einmeterfünfzig – eine Theaterphantasie mit Abstand“ von Rainald Grebe im Schauspielhaus Dresden. Foto: Sebastian Hoppe

„Es heilt nur Menschen, wo Menschen sind“

Die Aufführung „Einmeterfünfzig“ – eine wunderbar komödiantische und zugleich wehmütige Vorschau auf die neue Spielzeit im Staatsschauspiel Dresden ist heute, am 29. Oktober, 19.30 Uhr zum vorerst letzten Mal im Schauspielhaus Dresden zu sehen. Wegen erneutem Lockdown ungeachtet der genehmigten Hygienekonzepte sollen die Kultureinrichtungen ab 2. November wieder schließen.

„Was ist schöner als ein tobender, ausverkaufter Saal“, sagt eine Stimme aus dem Off. „Von Hundert auf Null“, eine andere. „Manchmal ist 1,50 Meter viel zu viel… Wir sollten auch nachdenken, für wen wir das Theater machen“, sagt eine Frauenstimme. „Hier im Haus wartet keiner. Das war schon komisch. Besonders abends“, fügt eine andere hinzu. Die O-Töne am Anfang der Vorstellung aus der Zeit des ersten Lockdowns im Frühjahr sind nicht vorbei, sondern wieder erschreckend nah.

Nachdem die neue Spielzeit im Herbst gerade begonnen hat, sollen die Theater und andere Kultureinrichtungen erneut schließen aufgrund neuer Maßnahmen aus der Politik zur Eindämmung des Corona-Virus. Ab 2. November sollen sie in Kraft treten. Obwohl bisher kein Fall von Corona-Infizierten aus Theatern bekannt geworden ist und mit genehmigten Hygienekonzepten gearbeitet wird.

Eine seltsame, geisterhafte Situation. Neben Sitzreihen mit schwarz verhangenen Stühlen sitzen Pappfiguren neben den Zuschauern im halbleeren Theatersaal. Symbolisch für die Misere und all diejenigen, die nicht mehr ins Theater kommen. Eigentlich wollte Rainald Grebe ein Stück über den legendären Lügenbaron von Münchhausen auf die Bühne bringen. Doch dann kamen die Corona-Einschränkungen.  So heißt die witzig-absurde, der Misere voll Spiellust trotzende Inszenierung nun bezeichnenderweise „Einmeterfünfzig – Eine Theaterphantasie mit Abstand“ von Rainald Grebe.

Die Schauspieler sitzen vor der Bühne. Zwischen Kantinenstimmung und Warten auf den langersehnten Auftritt erzählen, singen und spielen sie abwechselnd Ausschnitte aus Stücken, die wegen der Corona-Situation abgesagt oder verschoben werden mussten. Begleitet mit melancholischen Klängen am Cello und Piano von zwei Musikern (Jens-Karsten Stoll und Dietrich Zöllner). Immer wieder fährt ein Megaphon von der Bühnendecke grell tönend: „Halten Sie Abstand!!“ Manchmal blinkt ein rotes Warnlicht auf, wenn die Schauspieler sich ein paar Zentimeter zu nahe kommen.

Eine Schauspielerin mit Visier vor dem Gesicht (Birte Leest) teilt eifrig die KollegInnen für die Proben ein. Irgendwann platzt ihr der Kragen, dass all die Mühen der Probenarbeit umsonst gewesen sein sollen und sie fragt in einem leidenschaftlichen Gefühlausbruch, was denn eigentlich der Begriff „systemrelevant“ bedeute und für die Kultur etwa nicht zutreffe?!

Die Bühnentechnik mit ihrem riesigen Räderwerk bewegt sich auf und ab, auf die Leinwand projiziert zu Spieluhrklängen. Der Sternenhimmel funkelt aufs Schönste von der Bühnenwand. Ein Schlagzeug bricht donnernd in die wehmütige Atmosphäre ein. Die Schauspielerin Anna-Katharina Muck tritt als Venus im blauen Kleid aus einer Muschel und singt ein Lied über das „Spiel im Dunkel…“, das Dunkles ins Licht holt.
Drei Schauspielerinnen singen wie Sirenen, ein Spielmann zerreißt den Bogen.

„Die Probleme beginnen alle mit dem Mensch! Weil wir atmen…“, verkündet einer. Auf einem rollenden, bunt blümchengeschmückten, eingezäunten Podest, das heile Welt vorgaukelt, taucht unversehens ein körperlich behinderter Mann auf, der weiß, dass er hier Spielverderber ist und zugleich auf das Mitgefühl der anderen setzt.  „Sie sehen mit der Geburt beginnt schon die Gefahr des Todes“, sagt Klaus-Dieter Werner.

Ihre Spielleidenschaft lassen die Schauspieler sich dennoch nicht nehmen. Ein junger Schauspieler stürmt auf die Bühne mit zwei Degen. Kämpfen, lieben, leiden… mit ganzem Körpereinsatz für das Publikum, dafür gibt er alles.

Voll abgründigem Humor eine Szene aus der noch bevorstehenden Inszenierung „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“, ein Stück über einen Tanzmarathon, der Ruhm und Geld verspricht, gebrochene Leiber und Träume hinterlassen wird und in den 1930er Jahren spielt. Die Darsteller tragen dick aufgeblasene Hüllen und tanzen wie Aufziehfiguren ununterbrochen auf der Stelle. Einer nach dem anderen fällt um, der letzte zappelt noch im Liegen mit den Beinen in der Luft.

Anna-Katharina Muck will ihr Kostüm aus ihrer Glanzrolle der „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“ von Bertolt Brecht versteigern. „Was, nur 30 Euro für ein Bühnenleben?! Das war eine meiner besten Rollen“, ringt sie fassungslos nach Luft. Das sei 20 Jahre her, doch die Wände vergessen doch nichts.  „Ich kauf`s mir selber und hungere mich rein“, sagt sie sarkastisch. „Es heilt nur Menschen, wo Menschen sind“, zitiert sie Johanna.

Höhepunkt des Theaterabends ist der Auftritt von Ahmad Mesgarha in seiner legendären Rolle als Frank`n`Furter aus der Rocky Horror Show mit Federboa, Strapsen und schwarzem Mieder, der sich als extravaganter Star aufspielt und Anna-Katharina Muck steht mit vielsagendem Blick daneben und bietet ihm trocken humorvoll Paroli in einer Szene aus dem Stück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf ?“. Köstlich komisch-romantisch schweben beide als Romeo und Julia als reifes Paar in großen Seifenblasenbällen auf der Bühne umher und schmachten sich liebevoll an. Und in schneller Verwandlung als altes Liebespaar Philemon und Baucis hocken sie nebeneinander, rührend, weise, nachdenklich. Wenn es nicht anders geht, gehen die Schauspieler ihrem Spieltrieb in einem Legofiguren-Spiel, festgehalten in Videoaufnahmen nach. Und Abstand hin oder her. Zum Schluss rennt ein junges Schauspielerpaar schreiend auf die Bühne und nun ja, küsst sich.
Reichlich Beifall für eine wunderbare Aufführung voller Theaterzauber trotz Abstand.

Text (lv)

http://www.staatsschauspiel-dresden.de