Wenn das Ampelmännchen zum Nazi wird

Die Tochter zieht ein Dirndlkleid unter der Lederjacke an, um herauszufinden, was deutsch ist. Die Mutter ruft rebellisch: „Macht kaputt, was euch kaputt macht !“ Doch reicht das, um einander zu verstehen? Über Werte, Aussehen und Haltung wird heftig diskutiert und gerungen im Stück „Wer seid Ihr“ von Oliver Bukowski. Die Uraufführung war am Freitagabend auf der Studiobühne der Landesbühnen Sachsen in Radebeul.

Die Bühne hat sich in eine Dorfkneipe irgendwo in Sachsen verwandelt. Mit bunten Lämpchen überm Tresen und Zapfhahn mit dem Schild „Außer Betrieb“. Die Zuschauer sitzen ringsum auf Holzbänken an langen Tischen. Wer mag, kann eine Flasche Bier, Radler oder Himbeerlimonade für einen Euro bestellen bei der feschen Wirtsfrau, die Anke Teickner spielt. Ein Stück Alltag aus dem tiefsten Osten kommt hautnah, ungeschminkt und brandaktuell auf die Bühne mit der Inszenierung “Wer seid Ihr“ von Oliver Bukowski. Entstanden als Auftragsarbeit der Landesbühnen Sachsen in Radebeul, fand die Uraufführung am Freitagabend dort auf der Studiobühne statt.

Kundschaft verirrt sich kaum hierher. Der Fernseher läuft fast den ganzen Tag. Für Belustigung sorgt ein Beitrag über eine junge Frau, die mitten auf einer Kreuzung in Berlin vor den Autos keulen- und bänderschwingend umhertanzt, dafür Geld verlangt und ihre Wut über die Verhältnisse im Land herausschreit. Plötzlich bricht sie zusammen. Entsetzt erkennen die Leute in der Kneipe Lisa. Ihre Eltern betreiben die Dorfkneipe. Wenig später wird sie unfreiwillig in ihr Elternhaus zurück gebracht. Im Rollstuhl wird Lisa (beklemmend als knallharte Idealistin: Sophie Lüpfert) mit Laptop auf den Knien von ihrer Mutter hereingefahren, blass, dünn, mit flackernden Augen und voller Zorn auf alle. Als sie ihr Haar zu einem blonden Zopf flechtet, unter der schwarzen Mütze, zu Jeans und Lederjacke, spottet Lisa: “Zeig mir wie du aussiehst und ich sage dir, wer du bist!“

Die Mutter (adrett-besorgt: Anke Teickner) versucht ihre Tochter zu ändern, die Wogen zu glätten. Eine versteht die andere nicht. Der Vater (innerlich brodelnd: Michael Heuser) behandelt Lisa wie einen unerbetenen, störenden Gast. Da sie provozierende Fragen stellt, ob sie mitmarschiert seien wie zum Kirchgang mit den Nazis und was mit ihnen passiert sei. Das löst ebenso komisch-absurde wie haarsträubende, hitzige Wortgefechte in der Familie aus, wann jemand ein Nazi ist, da rebellieren Junge gegen Alte und hauen sich gegenseitig ihren Frust, Ängste, Einstellungen und Vorurteile über Flüchtlinge und die sozialen Konflikte im Land um die Ohren in dieser spannenden Inszenierung von Tom Quaas.

Da witzelt Lisas Onkel Ralf (Matthias Henkel) darüber, wie ein „kleiner Nazi“ aussieht: „Wie`s Ampelmännchen, nur  mit Hitlergruß!“ Wenig später zieht er eine Pistole aus dem Bademantel und zielt auf Lisas Freund Fred (besserwisserisch dozierend: Moritz Gabriel) als vermeintlichen Einbrecher. Dann brennt die Dorfkneipe. Die Familie kann gerade so entkommen und genießt die Aufmerksamkeit, die ihr im TV-Studio mit Blick auf die Altdresdner Kulisse zuteil wird. Nur Lisa fehlt. Sie wurde von Rechtsradikalen zusammengeschlagen, dokumentiert in einer Handy-Aufnahme. Am Ende  herrscht minutenlang betroffenes Schweigen. Herzlicher Beifall für eine Aufführung, die viel Zünd- und Gesprächsstoff bietet, manche Fragen offen lässt, beunruhigt und aufrüttelt. Selbst aufzustehen für das, was einem nicht gefällt.

Text (lv)

Nächste Vorstellungen:

3.5., 5.5., 29.5. und 8.6., jeweils 19.30 Uhr.

http://www.landesbuehnen-sachsen.de

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