Der Zauberberg der vergessenen Bücher

Auf eine Zeitreise zum Staunen, Schmunzeln und Erinnern nimmt die Ausstellung „Leseland DDR“ die Besucher mit im Kultur-Bahnhof Radebeul-Ost.

Was waren das für Zeiten, als Bücher weggingen wie warme Semmeln, vor Buchläden Schlangen standen und Menschen am Ostseestrand liegend gebannt in ihre Lektüre vertieft waren? Auf eine spannende Zeitreise in ein besonderes Kapitel DDR-Geschichte nimmt derzeit die Ausstellung „Leseland DDR“ die Besucher mit im Kultur-Bahnhof Radebeul-Ost in der Sidonienstraße 1c. Staunen, Schmunzeln, vielfältige Erinnerungen und auch ein bisschen Wehmut löst diese Schau aus. Diese wird veranstaltet von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und kuratiert von Stefan Wolle, Historiker, Autor und wissenschaftlicher Direktor des Berliner DDR-Museums.

Zu sehen sind rund 20 Tafeln nostalgisch rot unterlegt, rund um Literatur aus dem Osten für Erwachsene und Kinder mit vielen zeithistorischen Fotos, Texten und QR-Codes zum Anhören von Videos mit Zeitzeugen. Darunter Interviews mit dem Schauspieler und Bücherretter Peter Sodann, dem Liedermacher Wolf Biermann, Heinrich Böll, Brigitte Reimann auf dem „Bitterfelder Wege“, 1962, Thomas Brasch und Stefan Heyms Rede im November 1989 auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz. Im Rückblick können die Besucher der Ausstellung auf diese Zeit schauen wie in einem Kaleidoskop, an eigene Erlebnisse und Erfahrungen anknüpfend und Menschen, die die DDR-Zeit nicht kennen einen Einblick bekommen. Dazu lädt ein heller Raum als Café gestaltet mit kleinen runden Tischen, Stühlen und Sesseln in warmen Farben und einer Sofaecke mit Leselampe am Fenste  ein, wo man verweilen und das Gesehene wirken lassen kann, in der ehemaligen Schalterhalle und jetzt Kultur-Bahnhof.

Die Ausstellung „Leseland DDR“ geht dem Wert von Büchern und Literatur im Spannungsfeld von Realismus contra Realität nach. Bevor die „Wunderbaren Jahre“ und „Märchenwelten“ dazumal in der Dokumentation noch einmal aufleuchten, erzählt „Der Zauberberg der vergessenen Bücher“ gleich auf der ersten Tafel vom Ende des Leselandes DDR. Mit Fotos von Bücherbergen in Containern, weggeworfen mit dem Untergang der DDR. Ein Student durchwühlt einen davon und hält einige Bücher in der Hand. Traurig und dramatisch beschrieben, wie die Leute auf wacklige Leitern steigen, um an die obersten Regale zu gelangen und unter Lebensgefahr die plötzlich wertlosen Bücher zu holen. Ironie der Geschichte. Ein Saal voller Bücher aus der DDR, aufbewahrt in der Bibliothek von Peter Sodann und Antiquariat im sächsischen Staucha im Landkreis Meißen. Der Schauspieler, Kabarettist und Theatermacher rettete viele. In reichlicher Auswahl begleiten sie die Ausstellung, viel gelesene und diskutierte Bücher z.B. von Andrej Platonow „In der schönen und grimmigen Welt“, Ulrich Plenzdorf „Die neuen Leiden des jungen W.“, Landolf Scherzer „Der Erste“, Christa Wolf „Kindheitsmuster“ und Kurt Schwitters „Anna Blume und andere“.

Weitere Tafeln zeigen beliebte Kinderbücher wie „Alfons Zitterbacke“, Science Fiction-Literatur, Krimis, Kochbücher, schwer erhältliche Bücher mit brisantem Inhalt, so genannte „Giftschrank-Literatur“ künden von der Macht des Wortes, die Leipziger Buchmesse lockt viele als „Fenster zur Welt“ und die Frage nach „Zwei deutschen Literaturen?“ wird gestellt. Der erste Deutsche im Weltraum, der DDR-Kosmonaut Siegmund Jähn hatte 1978 eine dreibändige Miniaturausgabe von Goethes „Faust“ im Reisegepäck. Laut einer Besucherbefragung bekam 1983 nur noch jeder sechste Kunde seinen konkreten Kaufwunsch erfüllt vom Volksbuchhandel im „Leseland DDR“. Gefragte Titel waren meist nur unter dem Ladentisch mit „guten Beziehungen“ zum Buchhändler erhältlich. An der Spitze stand Alexander Wolkow, gefolgt von Karl May, Avery Corman, Èmile Zola und Maxi Wander. Stefan Zweig kam auf Platz neun, dicht gefolgt von Franz Kafka und Hermann Hesse.

„Was wäre aus dem DDR-System geworden, wenn bestimmte literarische Stimmen hätten wirken dürfen?“, fragt Ines Geipel, Schriftstellerin und Hochschullehrerin mit Blick auf zeitkritische Autoren. Im letzten Kapitel der Ausstellung „DDR und kein Ende“ sind Bücher versammelt, die nach der Wende erschienen und spannend vom Leben in der DDR und der deutschen Teilung erzählen wie die Romane von Erich Loest, Lutz Seiler in „Kruso“, Uwe Tellkamp „Der Turm“ und Eugen Ruge „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Die Ausstellung bietet viele Anregungen zum Austausch und auch mal wieder zu einem Buch aus der DDR-Zeit zu greifen. Denn: „Sicher ist eines: Es gibt noch genug zu erzählen“, so der Autor der Ausstellung, Stefan Wolle.

Eine Lesung mit dem Schriftsteller Lutz Rathenow unter dem Titel „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln“ aus seinem Buch „Mein Leben in  Geschichten“ gibt es zum Abschluss der Ausstellung am 31. März, 19 Uhr im Kultur-Bahnhof Radebeul-Ost.

Text + Fotos aus der Ausstellung (lv)

Geöffnet wie die Bibliothek: werktags von 10 bis 19 Uhr, Mittwoch geschlossen

Weitere Infos + Begleitmaterial zur Ausstellung unter http://www.leseland-ddr.de

Werbung